Montag, 12. Mai 2008

Etappe 13: Von Belorado nach Agés

Es ist Sonntag, der 5. August 2007.

Morgens um 5:30 Uhr beginnt unser Marsch wieder, obwohl die Füße schmerzen und obwohl die Nacht weniger erholsam war, als gedacht. Es war recht warm im Schlafsaal und im Ort ging die Fiesta bis in die frühen Morgenstunden weiter, so dass es etwas laut war. Eigentlich scheint das Fest sogar jetzt noch im Gange zu sein, wenngleich die Anzahl der Feiernden doch nachgelassen hat. Aber immerhin, wir Pilger machen uns wieder auf den Weg und die Leute von Belorado feiern noch immer. Ich gehe wieder mit Sabine und Julian und am heutigen Tag steht eine relativ lange Etappe von fast 30 km bevor, die uns durch die Montes de Oca führen wird, eine kleine Gebirgsgruppe entlang des Jakobsweges. Gestern abend aber haben Julian und ich uns noch eine kleine Motivationshilfe zugelegt: In der Herberge von Belorado gab es T-Shirts mit aufgedruckten Füßen, die mit Blasenpflastern übersäht sind und vom Schriftzug „NO PAIN – NO GLORY“ umrandet sind. Wir beide fanden diese T-Shirts toll und sie sollen uns und andere Pilger ermutigen, bis Santiago durchzuhalten und so den Schmerz (PAIN) zwar jetzt zu ertragen, aber eigentlich nur, um dann in Santiago de Compostela den Ruhm (GLORY) auch verdient zu genießen. Mich erinnert das T-Shirt plötzlich wieder an das, was Martin oder Sören mir vor einigen Tagen gesagt hatten: „Embrace the pain as your friend!“ (Umarme den Schmerz als deinen Freund!). Damals konnte ich das nicht so ganz nachvollziehen, aber der Text des T-Shirts macht es noch einmal auf andere Weise deutlich. Die Schmerzen, die wir Pilger nun auf dem Weg erleben, werden im Glanze des Ruhmes beim Einzug in Santiago verblassen und doch gehört das eine zum anderen.
Während ich mir diese Gedanken mache, zieht die kastilische Landschaft an uns vorüber und wir kommen nach Villafranca-Montes de Oca. Hier frühstücken wir erst einmal und ruhen uns ein wenig aus. Da mein Rücken schon wieder – oder besser immer noch – schmerzt, hat mir Sabine auf dem Weg einige Yoga-Tricks gezeigt, die tatsächlich helfen, wenigstens eine Weile. Irre, so komme ich auch noch zu Yoga!!!
Hinter Villafranca geht es steil bergauf, die Berge warten auf uns. Viele unserer Mitpilger stöhnen und für Gespräche bleibt nicht viel Luft. Sabine schickt Julian und mich voraus, weil sie etwas langsamer gehen möchte. Auf den Bergen oben hat man eine schöne Aussicht und irgendwie kommt es mir vor, wie eine Mischung aus Erzgebirge, Thüringer Wald und Schwarzwald. Doch schon bald laufen wir im Schatten einiger Bäume. Leider ist der Schatten nicht unbedingt nötig, denn es ist seltsam trüb geworden – nicht wirklich bewölkt, aber auch nicht sonnig. Es herrscht eine schwüle feuchtwarme Luft, die den Aufstieg in die Hügel nicht gerade erleichtert. Am Boden unterhalb der Baumkronen wächst ein weiter Farnwald, der uns fast vermuten lässt, wir seien in die Urzeit gewandert und jeden Moment könnte uns irgendeine komische Urechse angrinsen. Das passiert aber nicht und bald schon haben wir den „Urwald“ wieder verlassen.
Nach einer Weile kommen wir an ein eher hässliches Denkmal zu Ehren von Republikanern, die im spanischen Bürgerkrieg 1936 ermordet wurden. Hier legen wir drei wieder eine kurze Pause ein. Dabei bietet sich uns ein beeindruckender wenn auch etwas ehrfuchtsvoller Anblick des weiteren Weges. Gleich hinter dem Monument geht es nämlich extrem steil bergab auf einem kleinen mit losen Steinen übersäten Pfad. Dieser endet vorerst in einem kleinen engen Tal bevor er gleich darauf wieder extrem steil in gleicher Qualität nach oben führt. Es bietet sich uns also ein wirkliches V-Tal, welches wir durchwandern müssen und irgendwie drängt sich mir der Gedanke auf, dass man hier extra um die Pilger zu ärgern, keine Brücke gebaut hat. Wir steigen also vorsichtig hinab und stellen fest, dass, je tiefer wir kommen, es tatsächlich kühler wird. Als wir unten ankommen und gleich wieder bergauf gehen wollen, fällt Julian ein, dass er seinen Wanderstock am Monument vergessen hat. Dieser Junge hat schon öfter Dinge unterwegs vergessen und musste damit wohl jedesmal wieder etwas dazulernen. Diese Lektion könnte aber einen tieferen Eindruck hinterlassen, denn nun muss er tatsächlich den Berg wieder hoch, dann wieder runter und auf der anderen Seite wieder hoch. Ich nehme an, er wird danach wohl so schnell nichts vergessen. Sabine und ich warten solange und ruhen uns an dem kleinen Bächlein im Tal aus.
Nach kurzer Zeit kommt Julian – mit Stock – wieder und ist auch sofort zum Wiederaufstieg bereit. Ein echter Gebirgsmensch! Also geht es los und nun bergauf.
Oben angekommen schauen wir nur kurz auf das absolvierte Teilstück zurück bevor es durch den Wald auf einem trockenen Weg weitergeht. Es ist nun fast Mittag, wir alle sind schon ziemlich erschöpft und sehnen das Ziel herbei. Doch irgendwie will der Weg kein Ende nehmen. Zwar ist es schön, mal wieder in einem Wald zu gehen, aber da der Weg aus weißem Schotter besteht und die Sonne diesen nun wieder gleißend scheinen lässt, wird das alles bald ziemlich lästig. Hinzu kommt, dass es furchtbar warm wird und uns allen die Füße brennen. Bei mir schmerzt der Rucksack weiter, doch daran habe ich mich nun auch schon gewöhnt. Sogar der Wasservorrat neigt sich langsam dem Ende und nach jeder Kurve hoffen wir, endlich wieder Zivilisation zu sehen. Aber nein, der Weg schlängelt sich weiter und erst in der heißen Mittagssonne verlassen wir den Wald und hören in der Ferne die Glocken des Klosters San Juan de Ortega.
Völlig erschöpft, müde und durstig erreichen wir einen schattigen Brunnen am Fuße des Klosters. Jetzt erstmal raus aus den Schuhen, trinken und sitzen. Von mir aus endlos lange sitzen. Sabine und Julian sind auch sehr erschöpft, aber in San Juan wollen wir nicht bleiben. Bis Agés sind es noch einige Kilometer und dort wartet – laut Wanderführer – eine schönere Herberge auf uns als hier. Aber bevor es weitergehen kann, müssen wir ausruhen. Einige ältere Leute kommen zum Brunnen und uns fällt auf, dass ihre Socken noch seltsam weiß sind. Wir schauen uns um und sehen einen Bus stehen. Aha, das sind wohl die sogenannten Buspilger, die von einem Ort zum nächsten fahren. Naja, mir fällt wieder die Sache mit dem Schmerz und dem Ruhm ein, aber ich erlaube es mir selbst nicht, zu urteilen.
Wir drei ziehen unsere Schuhe wieder an, machen uns wieder auf den Weg, aber nur um in der ca. 100 Meter entfernten Taverne erstmal eine schöne kühle Cola zu trinken. Die haben wir uns aber auch verdient. Dann geht es weiter nach Agés. Der Weg windet sich wieder durch Wald und geht dann auf weiten hügeligen Wiesen und Feldern weiter. Es weht ziemlicher Wind, was die Sonne erträglich macht und gegen 14 Uhr erreichen wir Agés, ein verträumtes altes und fast leblos anmutendes Örtchen. Wir finden die Herberge, die uns wohlwollend und freundlich aufnimmt. Sie ist auch sehr schön und gepflegt eingerichtet mit sauberen Bädern und nicht all zu großen Schlafräumen. Wir haben uns für die private Herberge entschieden, doch die kommunale Herberge ist gleich im Haus nebenan. In unserem Zimmer treffen wir auch das koreanische Ehepaar wieder, das wir schon in Belorado gesehen haben. Nach dem Duschen und Wäschewaschen kommt auf einmal ein ziemlicher Sturm auf und es fängt an zu gewittern. Das erste Gewitter hier und irgendwie hatte es das Wetter des Tages auch erwarten lassen. Aber meist donnert und blitzt es nur, es fallen nur wenige Tropfen Regen. Beim Essen machen wir uns Gedanken, ob Ute und Peter auch hier sind. Wir haben sie seit Belorado nicht wieder gesehen und können uns kaum vorstellen, dass sie in San Juan geblieben sind. In unserer Herberge sind sie nicht, doch als wir so gemütlich vor dem Haus essen, kommt aus der Nachbarherberge plötzlich ein vertrautes Gesicht spaziert: nicht Ute oder Peter sondern Sieglinde, von der wir uns hinter Granon verabschiedet hatten. Sie hatte schlicht in anderen Herbergen übernachtet, als wir und nun treffen wir uns hier wieder. Wir plaudern ein wenig und gehen dann gemeinsam die kleine alte Kirche von Agés ansehen. Diese Kirche ist schön und idyllisch, sie hat etwas märchenhaftes. Das mag daran liegen, weil sie am Rand des kleinen Ortes liegt, der ohnehin schon kaum Menschen zu beherbergen scheint oder daran, dass sie so schön eingebettet in Bäume und Sträucher ist. Es ist ein wenig, wie ein verwunschenes Schloss oder ein vergessener Ort, der dadurch aber sehr persönlich wirkt.

Zurück in der Herberge lege ich mich für den Rest des Abends ins Bett, bin schrecklich müde und die Beine schmerzen. Im Kopf spielen Gedanken an die morgige Etappe – dann geht es nach Burgos, der wohl bisher größten Stadt auf dem Weg. Burgos bedeutet aber auch Abschied von Sieglinde, Sabine und Julian und – falls wir sie nicht ohnehin schon verloren haben, auch von Ute und Peter.