Dienstag, 13. Mai 2008

Etappe 14: Von Agés nach Burgos

Es ist Montag, der 6. August 2007.

Am Morgen brechen Julian, Sabine und ich in Agés auf. Die Nacht hat ein wenig Abkühlung gebracht und es ist angenehm frisch. Wir begeben uns in der Dunkelheit auf den Pilgerweg, der uns aus Agés heraus auf umliegende Wiesen und Felder führt. Hier scheint sich der Weg im Nichts zu verlieren und an verschiedenen Orten weiter vorn sieht man sporadisch Pilger auftauchen, die entweder ebenfalls ratlos scheinen oder scheinbar sicher ihren Weg verfolgen. Was sollen wir nun machen? Der Wanderführer spricht von einem Zaun, aber den können wir nicht sehen. Aber in der Dämmerung fällt uns ein Steinpfeil auf, der offenbar von pflichtbewussten Mitpilgern gelegt wurde. Diesem folgen wir nun im Vertrauen, dass dies der richtige Weg ist. Bald darauf führt uns dieser Weg wieder bergauf auf eine Hochebene. Dabei ist der Weg durch Wurzeln und Steine etwas mühselig und im Dämmerlicht auch ein wenig gefährlich, denn schnell ist man gestolpert und gefallen. Überhaupt wirkt dieses Stück Weg ein wenig gespenstig im Morgengrauen. Links und rechts sind nur einige Sträucher und man hat irgendwie das Gefühl, von der Ebene oben aus würde man etwas Unerwartetes sehen. Aber dem ist nicht so, einmal oben kann man nur weit ins Land blicken und ein einsamer Sessel in der Landschaft bildet die größte Kuriosität. Er wirkt in der weiten verlassenen Landschaft (wo sind all die Pilger von vorhin, frage ich mich) wie aus einem Flugzeug abgeworfen. Surreal und auch nicht wirklich kraftspendend steht dieser Sessel einfach da. Hier oben weht nun ordentlich der Wind und trübe Wolken befinden sich am Himmel. Nun gehen wir die Schotterpiste wieder hinab und unterhalten uns ein wenig, auch in Vorfreude auf ein schönes Frühstück im nächsten Ort. Dann tauchen auch wieder mehrere Pilger vor und hinter uns auf, so dass man nicht mehr ganz so verlassen ist.
Als wir in das nächste kleine Dörfchen kommen, halten wir Ausschau nach einem Kaffee um zu frühstücken. Vor einer kleinen Bar haben sich schon mehrere Pilger eingefunden, also muss es dort Café con leche (Milchkaffee) und ein Croissant geben. Sabine stellt ihren Rucksack auf einer Bank ab und schaut durch das Fenster nach innen. Plötzlich ruft sie: „Schaut mal wer da ist! Der Peter, die Ute und Sieglinde!“ Unglaublich, aber so kurz vor dem Tagesziel Burgos treffen wir uns also alle wieder und unsere Gruppe ist ein weiteres Mal vereint. Wir gehen herein und werden froh empfangen. Jetzt gibt es erstmal ein leckeres Frühstück und dabei erzählen uns Ute und Peter, dass sie gestern so fit waren und sogar noch über Agés hinaus gelaufen sind. Daher hatten wir uns kurz aus den Augen verloren. Nach dem Frühstück laufen wir sechs dann gemeinsam weiter in Richtung Burgos. Dabei laufen wir zumeist umgeben von vielen anderen Pilgern und es wird sehr deutlich, dass Burgos nicht irgendein Etappenziel auf dem Jakobsweg ist, sondern ein ganz besonderes. Viele beenden hier schon ihren Weg, weil ihnen die Zeit fehlt und sie hier später wieder einsetzen. Auch Ute und Peter werden in Burgos ihren Urlaub beenden und dann wieder zurück nach Deutschland reisen. Andere wiederum beginnen den Jakobsweg in Burgos. Und viele steigen in Burgos in den Zug oder in den Fernbus um die Mesetas zu umfahren und den Weg in León fortzusetzen, wie es Sabine und Julian vorhaben. Und Sieglinde wird sogar von Burgos bis nach Santiago fahren (sie hat den Weg ja auch schon einmal absolviert) um dann noch bis nach Finisterre am Atlantik zu laufen. Die vielen Pilger zeigen aber auch, dass der Weg gut besucht ist und damit ist leider auch oft die Angst um einen Herbergsplatz verbunden.
Wir laufen aber einfach weiter und erblicken schon erste Anzeichen fortgeschrittener Zivilsation, wie geteerte Straßen, Baustellen und die Autobahn. Über all dem schweben zunehmend schwarze Gewitterwolken, die zwar noch in der Ferne zu sein scheinen, aber sich konsequent auf uns zu bewegen. Zwischendurch tröpfelt es immer nur kurz und der Wind bläst uns entgegen. Bei unserer Wanderung und den Gesprächen verpassen wir dann irgendwann den unauffälligen Abzweig, der uns auf einem angenehmeren Weg in die Innenstadt von Burgos geführt hätte.
Darüber ärgere ich mich ein wenig, denn gerne hätte ich mir die industrielle Vorstadt von Burgos erspart. Wenig später erreichen wir Villafria, einen Vorort von Burgos und nun heisst es zum ersten Mal Abschied nehmen. Ute und Peter haben sich vorgenommen, von hier aus mit dem Bus in die Innenstadt zu fahren. Auch die anderen überlegen kurz, mitzufahren, aber für mich kommt dies nicht in Frage, denn ich möchte wirklich den ganzen Weg nur laufen. Wir tauschen noch schnell Adressen aus, verabschieden uns herzlich und sehen schon bald, wie Ute und Peter im Bus verschwinden und in Richtung Burgos abfahren. Sieglinde, Sabine, Julian und ich bleiben zurück an dieser hässlichen lauten Straße. Und zu allem Unglück fängt es jetzt auch noch an heftig zu gewittern und zu regnen. Es gießt aus allen Kannen und wir stellen uns so lange unter und nutzen die Zwangspause, um uns ein wenig zu stärken und dann so gut es geht wetterfest zu machen. Für einen Moment bereue ich es nun, nicht auch mit dem Bus gefahren zu sein und denke mit Graus an die Herberge, die von all den nassen schwitzigen Pilgerklamotten sicher ganz klamm sein wird. Aber dann übernimmt mein Pilgerbewusstsein wieder die Kontrolle und ich finde mich mit der Situation ab. Wir warten noch bis es ein wenig nachgelassen hat und laufen dann los.
Der Weg entlang der Straße ist nervig, das Wetter tut den Rest. Es regnet uns ins Gesicht, die vorbeifahrenden Autos machen Lärm, der durch das monotone Aufstoßen der Stahlspitzen unserer Pilgerstäbe begleitet wird. Immer wieder muss man Pfützen ausweichen und so laufen wir stundenlang weiter und Burgos scheint nicht wirklich näherkommen zu wollen.
Als wir den Innenstadtrand erreicht haben, lädt uns Sieglinde in eine kleine Bar zum Kaffee ein und es tut gut, kurz abzuschalten von diesem Weg, der im Moment so gar nichts von einem Pilgerweg hat. Als wir wieder heraus kommen, hat es wenigstens aufgehört zu regnen und nun müssen wir uns durch den Großstadtdschungel durchschlagen, mit Adleraugen auf gelbe Pfeile achten und dabei immer wieder die Karte studieren um die Herberge zu finden und uns bei all dem auch nicht aus den Augen zu verlieren. Sieglinde stürmt voran, als würde sie schon Jahre in Burgos wohnen und sich auskennen, aber sie vertraut einfach darauf, wegweisende gelbe Pfeile zu entdecken und diesen zu folgen. Bald erkennen wir die Kathdrale und wissen nun, dass wir in der Innenstadt sind und die Herberge nicht mehr weit ist. Kurz vor 14 Uhr erreichen wir die von uns bevorzugte Unterkunft – eine christliche Herberge, die nur ein paar Plätze hat, noch nicht geöffnet ist und wir sind die ersten. Darüber freuen wir uns. Bald schon stoßen noch drei weitere Pilger zu uns, die zum Teil auch aus Deutschland sind. Einer davon erzählt uns, bereits einen Tag in Burgos gewesen zu sein und in einer Pension übernachtet zu haben. Dabei reift sowohl bei mir, als auch bei Sabine der Gedanke, sich diesen Luxus doch auch wieder einmal zu gönnen. Aber wir verwerfen den Plan bald wieder, denn immerhin handelt es sich hier um eine kleine Herberge, so dass die Belastung durch schwitzige und feuchte Pilgersachen gering sein würde. Gegen 14 Uhr öffnet die Herberge und wir werden noch vor Betreten des Hauses eingewiesen. Dazu gehört, dass man die Stiefel noch vorher ausziehen soll und man am gemeinsamen Essen teilnehmen muss um das Gemeinschaftsgefühl zu pflegen. Wir sind etwas überrascht ob dieser stark beschränkenden Nächstenliebe und als wir den Hospitaleros mitteilen, dass wir um 19:30 Uhr gern die Messe in der Kathedrale besuchen würden, wird uns mitgeteilt, dass wir entweder dies machen könnten oder gemeinsam mit den anderen in der Herberge essen könnten. In ersterem Fall müssten wir jedoch wieder gehen und könnten dann nicht hier übernachten. Nun, das war freundlich aber auch sehr deutlich und aus Respekt vor den Regeln dieser Herberge aber auch mit dem Wissen einer vielleicht noch positiveren Alternative (Pension) verabschieden Sabine, Julian und ich uns und gehen. Leider kommt damit aber auch der viel zu schnelle und plötzliche Abschied von Sieglinde, die beschlossen hat, hier zu bleiben. Damit zersprengt sich unsere Gruppe erneut.
Wir marschieren nun doch etwas angefressen ob dieser Haltung der Herbergsleiter in Richtung Innenstadt und suchen uns eine Pension. In Burgos ist eine Pension nichts anderes, als eine riesige Wohnung, mit mehreren Zimmern, die dann an einzelne Besucher vermietet werden. Nicht gerade komfortabel aber immerhin privat im Vergleich zu Pilgerherbergen. Für 24 € habe ich damit für eine Nacht mal wieder ein Einzelzimmer mit Blick auf einen Hinterhof.
Nach kurzer Erfrischung begeben wir uns dann wieder gemeinsam in die Stadt. Das erste Ziel ist das Postamt, bei dem ich 2,2 kg meines Rucksackgewichtes aufgebe und postlagernd nach Santiago vorschicke. Ich hoffe, damit auch meine Rückenschmerzen zu lindern.
Danach versorgen wir uns mit ein paar Lebensmitteln und gehen dann zur Kathedrale. Auf dem Weg dorthin kommen wir durch das mächtige Stadttor, dass trotzig dasteht und von der Macht der einstigen Hauptstadts Kastiliens kündet. Dabei wirkt es aufgrund des hellen Steins fast wie neu und gar nicht, als könnte es Geschichten aus Hunderten von Jahren erzählen. Gleiches gilt für die wundervolle Kathedrale von Burgos. Sie ist so schön verziert und sieht mit ihren vielen Türmchen, Rosetten, Figürchen und Schnörkeln aus, wie eine Mischung aus Kleckerburg und Hochzeitskuchen. Welch ein majestätischer Anblick, ich bin beeindruckt und fasziniert. Schon allein die Außenfassade könnte man stundenlang in ihren Details betrachten, ohne alles wirklich zu erfassen. Die Kathedrale ist ein wahrer Ort zur Ehre Gottes, fast wie der himmlische Tempel selbst, verspielt und dennoch ehrfurchtsvoll. Ich erinnere mich in diesem Moment an das Buch von Ken Follett „Die Säulen der Erde“ und sehe hier eine Art meisterliche Kulisse dazu. Der Eindruck ist im Innern noch stärker. Das Gestein des Domes ist hell, an vielen Stellen gar weiß und dadurch wirkt das gesamte Kirchenschiff wunderbar hell und beruhigend.
Die gotische Architektur ist zart und filigran mit vielen kleinen steinernen Balken, Pfeilern, kleinen Himmelsgerüsten, die sich bis hoch in die Türme erstrecken und dabei wie Zuckerwerk aussehen. Durch die hellen Mauern kommen Hauptaltar, Seitenaltare und das Gestühl wundervoll zur Geltung. Dieser Anblick ist atemberaubend und zugleich zutiefst meditativ. Die vielen Touristen und Pilger stören nicht, es herrscht eine angenehme Ruhe in diesem Gotteshaus, das zweifellos zu einem meiner liebsten gehört, die ich bisher kenne. Im Anblick dieser Schönheit vergisst man schnell den Regen, die nervige Straße im Industriegebiet und die Enttäuschung über engstirnige christliche Herbergen. Ich kann die Wirkung der Kathdrale von Burgos nur schwer in Worten wiedergeben.
Nachdem wir die Kirche verlassen haben, gehen wir noch ein wenig durch die Innenstadt und bummeln durch die Läden. Ich besorge mir in einer Buchhandlung ein Buch, denn ab morgen werde ich wieder allein unterwegs sein und könnte vielleicht ein wenig Zerstreuung am Nachmittag brauchen. Dann treffe ich mich wieder mit Sabine um die Abendmesse in der Kathedrale zu besuchen, die aber „nur“ in einer der Seitenkapellen stattfindet. Immer wenn ich diese Messen besuche, empfinde ich dies als sehr wohltuend, zum einen weil viele andere Pilger auch daran teilnehmen, zum anderen weil die Festlichkeit katholischer Messen auch einen schönen Kontrast bildet zum einfachen und schmucklosen Dasein des Pilgers. Auch behalte ich dabei den eigentlichen Sinn meiner Pilgerreise, nämlich den einer bewussten Reise mit Gott, im Auge. Und noch einen Grund hat der Besuch dieser Messe: auch für mich ist diese Stadt und diese Etappe ein wichtiger Einschnitt auf dem Weg. Von nun an folgen die Mesetas mit wer weiss was für Herausforderungen landschaftlicher, wettertechnischer und zwischenmenschlicher Natur. Ich werde nun wieder weitestgehend allein unterwegs sein, wohl begleitet von anderen Pilgern, aber dennoch fern von Freunden und Familie und fern von den Menschen, die ich bis hierher kennen- und schätzen gelernt habe.
Am Abend dann essen Sabine, Julian und ich noch gemeinsam in der Pension zu Abend und dann heisst es wieder einmal Abschied nehmen. Morgen werden sie, wenn ich aufstehe, schon auf dem Weg nach León sein und ich werde mir meine Schuhe anziehen, meinen Stock nehmen und weiter laufen, bis nach Santiago zum Grab des Apostels und meinem großen Ziel.