Dienstag, 19. August 2008

Etappe 34: Von Arzúa nach Pedrouzo

Es ist Sonntag, der 26. August 2007.

Gegen 6 Uhr breche ich zusammen mit Elisabeth wieder auf. Auch heute unterscheidet sich der Weg landschaftlich nicht von den vorangegangenen zwei Tagen und auch in meinem Kopf sieht es nicht anders aus. Auf Wegen und Pfaden durchqueren wir mehr Eukalyptuswälder, kommen durch kleine Dörfchen. Hin und wieder tauchen Gedanken an die vorherigen Etappen auf. Ich kann mich noch an meine fast schon visionsartigen geistigen Bilder meiner Ankunft in Santiago erinnern, die ich ganz zu Beginn meines Pilgerweges hatte. Von denen ist nun nichts mehr zu spüren, obwohl die Stadt nicht mal mehr 30 km entfernt liegt. Ich denke auch an die landschaftlich doch eher leeren und monotonen Etappen in den Mesetas zurück und empfinde das saftige und mediterran wirkende Grün der hiesigen Umgebung als angemessene Beruhigung meines doch recht aufgewühlten Geistes. Ich denke auch an die Menschen zurück, die ich getroffen habe. Dass ich mit Sieglinde, Sabine, Julian, Ute und Peter gelaufen bin und wir uns in Burgos verabschiedet haben, scheint mir eine Ewigkeit her zu sein. Ebenso geht es mir mit den dänischen Freunden. Und dennoch sind sie alle noch in meinen Gedanken. Dieser Weg ist wie das Leben. Viele Etappen gehen wir, manche einsam und allein, andere zusammen mit guten Freunden und netten Bekannten oder auch mit weniger angenehmen Menschen. Man trifft sich und muss sich wieder trennen. Jeder hinterlässt dabei Spuren auf dem Weg der anderen und alle streben auf das Ziel hin, die letzte Etappe an deren Ende man zurückblickt auf das Erreichte aber auch auf die Dinge, die man versäumt hat oder die enttäuschend waren.
Aber noch bin ich nicht am Ziel. Noch muss ich einmal um einen Herbergsplatz bangen. Noch sind es einige Kilometer. Während dieser Gedanken und der Gespräche mit Elisabeth zieht die Landschaft vorbei. Ich bin froh, dass Elisabeth nun hier ist und wir gemeinsam laufen, denn wenn ich allein wäre, würde ich vielleicht auch zu stark in meinen Gedanken versinken. Und außerdem hätte ich dann nicht so viel Spaß am Erlernen des Österreichischen.
Immer wieder passieren wir andere Pilger, oder Pilger ziehen an uns vorüber. Es herrscht nach wie vor Freundlichkeit; man grüßt sich und wünscht sich einen guten Weg. Manchmal spürt man in diesen Wünschen die gleiche Sehnsucht und Erwartung, die auch ich fühle. Einmal passieren wir auch eine Gruppe von Pilgern, die in der Tat auf Wallfahrt sind. Sie beten unterwegs auf Spanisch den Rosenkranz und während wir uns ihnen nähern, sie passieren und uns wieder entfernen, hören wir beide diesen Pilgern bei ihren Gebeten zu. Mir tut es gut, dies zu erleben, auch wenn ich nicht römisch-katholisch bin, denn es drückt meines Erachtens die eigentliche Bedeutung dieses Jakobsweges aus: Gott mit dem ganzen Herzen zu suchen und ihm in Demut und aufrichtiger Frömmigkeit zu begegnen.
Der letzte Abschnitt der heutigen Etappe führt an der Straße entlang nach Pedrouzo zur Herberge. Als wir dort ankommen, erwartet uns nicht eine Schlange von Pilgern, sondern nur „Mr. Monk“, der bereits wieder seinen Rucksack aufgestellt hat, auf einer Bank sitzt und schmunzeln muss, als er uns sieht. Elisabeth und ich müssen richtiggehend lachen, als wir ihn sehen. Gemeinsam warten wir also wieder auf die Öffnung der Herberge und es wiederholt sich gewissermaßen das gleiche Spiel, wie gestern. Im Laufe der Zeit kommen immer mehr Pilger an und da es bald anfängt zu regnen, gerät die Rucksackordnung unter dem kleinen Vordach der Herberge ein wenig durcheinander. Und als die Türen der Unterkunft geöffnet werden, entsteht auch ein wenig Gedränge und Unruhe, die aber dank der Vernunft aller bald wieder endet. Es ist geschafft! Wieder einmal haben Elisabeth und ich einen Herbergsplatz bekommen. Hier riecht es zwar wirklich penetrant nach Desinfektionsmittel, was durch die schwülwarme Luft noch verstärkt wird, aber wir haben ein Bett. Nach der Dusche lege ich mich kurz etwas hin, schlafe aber nicht (was bei der Unruhe in der Herberge auch schwerlich möglich ist) sondern denke nach. Jetzt auf einmal durchströmt mich ein unbeschreibliches Gefühl der Dankbarkeit. Ich bin 21 km vor Santiago, habe nahezu 800 km zu Fuß mit 11-13 kg Gepäck auf dem Rücken zurückgelegt und Gott hat mich auf der gesamten Strecke begleitet, gesegnet und beschützt. Nie musste ich im Freien übernachten, nie war ich krank, meine Verletzungen waren nie so ernsthaft, dass ich länger pausieren oder gar aufgeben musste, nie bin ich Menschen begegnet, die mir Übles wollten, nie war ich ernsthaft und ausweglos bedroht, nie war das Wetter dauerhaft unerträglich oder gar gefährlich. All dies wird mir in diesem Augenblick klar. Ich begreife, dass ich den Jakobsweg geschafft habe, sowohl physisch, als auch psychisch und ob dieser Dankbarkeit, laufen mir ein paar Tränen über die Wangen.
Als ich am Nachmittag vor dem Gestank der Herberge nach draußen flüchte, sehe ich, wie Dorothee ankommt und freue mich, wieder ein bekanntes Gesicht zusätzlich zu sehen. Auch lerne ich noch einen jungen Schweizer namens Roman kennen, der ebenfalls berichtet, dass er zwei Tage aussetzen musste, weil er schwere Magenschmerzen bekommen hatte. Er erzählt, dass es in Spanien aufgrund der Dürre eine Mäuseplage gebe und daher viel Rattengift ausgestreut worden wäre. Möglicherweise sei einiges davon auch in Brunnen gelangt, von denen die Pilger ihre Wasservorräte unterwegs beziehen. Ich weiß nicht, ob dies stimmt, aber ich fühle mich einmal mehr in meinem Empfinden von eben bestätigt.
Am Abend gehen Doro, Elisabeth und ich noch in die Stadt um ein letztes gemeinsames Pilgermenü einzunehmen. Nach einiger Suche finden wir schließlich eine Kneipe, die es anbietet, wenngleich es nicht überragend ist. Aber hier geht es nicht um die Qualität des Essens, sondern um unsere Gemeinschaft vor dem Abschied. Mir ist klar, dass ich morgen allein weiterziehen muss und auch allein in Santiago ankommen werde. Ich bin mir dessen bewusst, auch wenn mir die Gesellschaft Elisabeths beim Laufen gut tut. Ich habe ihr dies gestern bereits mitgeteilt und war froh, dass sie das nicht falsch verstanden, sondern positiv aufgenommen hat. Vor mehr als vier Wochen habe ich dieses Abenteuer allein angetreten und nun bin ich mir sicher, dass ich es auch allein beenden muss. Außerdem befürchte ich, dass mich die Ankunft in Santiago emotional so überwältigen könnte, dass es andere und mich selbst vielleicht überfordert und überdies ist das auch ein etwas privater Moment.
Vom Wein und von der Aussicht auf die morgige Ankunft beschwingt, ziehen wir drei wieder zurück zur Herberge und der Tag endet. Es sind noch circa 20 km. Also auf nach Santiago.