Sonntag, 10. August 2008

Etappe 25: Von Foncebadón nach Molinaseca

Es ist Freitag, der 17. August 2007.

Kurz nach 6 Uhr mache ich mich auf den Weg und bin dabei nicht der erste. Einige andere Pilger sorgen auch schon für etwas Unruhe und tragen nun dazu bei, dass die Herberge wieder lebendig wird. Ich möchte recht früh starten, um bei Sonnenaufgang am Cruz de Ferro zu sein. Als ich die Herberge verlasse wird mir gleich klar, wie kalt es draußen ist. Aber ich habe mich warm angezogen und bin bereit. Leider verläuft der Weg gleich hinter Foncebadón in einem Feld und in der Dunkelheit bin ich völlig verloren und weiß nicht, wo es jetzt weitergehen soll. Einige Meter vor mir höre ich Schritte, die von einem anderen Pilger stammen. Auch er versucht einen Weg zu finden. Ich laufe weiter und folge auch ein wenig dem Geräusch seiner Schritte, beleuchte dabei aber auch immer die Beschreibung meines Wanderführers. Tatsächlich erreiche ich bald wieder einen Feldweg, der nun weiter in die Berge führt. In voller Erwartung, das Cruz de Ferro bald auf einem Berg zu entdecken wandere ich weiter. Langsam fängt es an zu dämmern aber das Kreuz bleibt noch immer außer Sichtweite. Ich werde nervös, denn bald wird die Sonne aufgehen und so weit kann es doch gar nicht sein. Oder habe ich mich vielleicht verlaufen? Nein, plötzlich und völlig unvermittelt stehe ich vor dem Cruz de Ferro, dem wohl mystischsten Ort des Camino. Meine Erwartung an dieses Kreuz war die eines Gipfelkreuzes und daher bin ich fast ein wenig enttäuscht, als es hier eigentlich eher in einer Senke, umgeben von einer Straße und Wald so plötzlich auftaucht. Es ist ein kleines eisernes Kreuz auf einem langen Holzpfahl der auf einem kleinen Geröllhügel steht. Alles ist sehr simpel, aber in der nun wachsenden Morgendämmerung spüre ich die geheimnisvolle Stimmung dieses Ortes. So genau weiß man nicht, woher dieses Kreuz stammt: war es ein römisches Wegezeichen oder ein Altar für den römischen Gott Merkur der später durch Christen übernommen wurde oder war es ein spanisches Grenzzeichen? Wie auch immer, dieser Ort hat eine ganz seltsame Stimmung. Viele Pilger seit hunderten von Jahren legen hier am Cruz de Ferro einen Stein ab, den sie von zu Hause mitgebracht haben. Es soll symbolisch für das Ablegen einer Seelenlast stehen. Ich wußte vor meiner Abreise nichts von diesem Ort und habe daher auch keinen Stein mitgenommen. Und als ich davon erfuhr, fand ich es unangebracht, irgendwo einen Stein aufzulesen um ihn dann hier abzulegen nur der Tradition wegen. Nun aber, da ich vor diesem Pfahl mit dem Kreuz stehe, in der Kälte dieses Morgens, umgeben von Dunkelheit und dem heranbrechenden Tageslicht, wird mir klar, dass es hier nicht nur um Tradition geht. Es geht hier um die Kraft der Erlösung, etwas Belastendes, das unser Denken, Fühlen und unsere Wahrnehmung im Leben blockiert, eine Schuld oder eine Erfahrung hier loszuwerden. Der Stein symbolisiert dies nur, viel wichtiger ist es, dies ganz persönlich und gedanklich, vielleicht verbunden mit einem Gebet, hier abzulegen und tatsächlich zurück zu lassen. Es ist dann mit Verlassen dieses Ortes weg, so wie die Sünde verschwunden ist, wenn sie uns von Christus vergeben ist. Es mag überzogen klingen, aber damit kann ein solcher Ort, wie das Cruz de Ferro für einen Moment zu einem ganz persönlichen Mittelpunkt der Welt werden. Ich verbringe dank dieser Erkenntnis auch eine ganze Weile vor dem Kreuz und lege schließlich aus Überzeugung einen kleinen Stein ab, den ich seit Jahren an meiner Halskette getragen habe. Es fällt mir schwer ihn hier zurückzulassen und doch fühle ich mich befreit, als ich das Cruz de Ferro im Sonnenaufgang wieder verlasse.



Der nun folgende Abschnitt des Weges ist einer der schönsten des gesamten Weges. Auf angenehmen Waldpfaden geht es durch die Montes de León. Die Sonne scheint, es ist angenehm still und der Blick in die Berge ist fantastisch. Überall erhebt sich das Gebirge und ist scheinbar mit einem samtenen Teppich überzogen. Dieser Anblick lässt mein Herz förmlich hüpfen und genau in diesem Moment macht der Jakobsweg riesigen Spaß. In der Ferne kann ich schon die Stadt Ponferrada erkennen, aber die Natur hier um mich herum gefällt mir viel besser.



Nach einem steinigen und steilen Abstieg erreiche ich den kleinen Ort El Acebo und benutze die Gelegenheit für ein weiteres spanisches Frühstück. Danach geht es weiter in Richtung Molinaseca an teils steinigen, teils grünen Berghängen hinab. An manchen Stellen kann man dabei noch die Folgen von Waldbränden erkennen.


Als ich Molinaseca erreiche, erkenne ich an einigen Schildern, dass derzeit die Fiesta del Agua im Gange ist, also eine riesige Wasserschlacht. Einige der Jugendlichen stehen mit Wassereimern an einer Brücke, die ich überqueren muss und ich befürchte schon, dass ich eines ihrer Opfer werden könnte. Scheinbar gehört es nämlich dazu, sich gegenseitig mit einem Eimer Wasser zu übergiessen. Naja, duschen möchte ich ja eh, daher wäre das nicht so problematisch. Ich habe aber eher Angst um meine Ausrüstung. Die Jungen lassen mich aber ohne Erfrischung passieren. Hingegen sieht man in den Straßen überall Pfützen und nasse Flecken, die auf eine lange und intensive Nacht hindeuten. Als ich so durch die Straßen der gemütlichen kleinen Stadt laufe, kommt mir ein Traktor mit Anhänger entgegen, auf dem einige Leute stehen und laut rufen. Mehrfach halten sie und Leute kommen mit Schüsseln, Tassen und ähnlichen Gefäßen heraus und lassen sie sich befüllen. Als mich die Prozession erreicht, rieche und merke ich, dass diese Leute Kakao verteilen und freue mich sehr, als mich die Leute auf dem Anhänger sehr freundlich begrüßen und mir einen Plastikbecher mit leckerem warmen Kakao reichen, der zweifellos in mühevoller Arbeit selbst gekocht wurde. Was für ein netter Empfang! Wenig später, etwas am Ortsausgang, finde ich eine Herberge, die sehr neu und modern zu sein scheint. Da sie noch nicht geöffnet ist, setze ich mich auf eine Bank davor. Schon wenige Minuten später kommt der Hospitalero Feliz und lässt mich ein. Er ist sehr nett und zeigt mir alles. Dabei erklärt er mir, dass diese Herberge erst seit zwei Monaten existiert und entsprechend neu und unverbraucht ist alles. Es gibt keine Stockbetten, alles ist sehr sauber, die Duschen sind sehr modern. Ich freue mich, wieder so gut untergekommen zu sein und ruhe mich schließlich ein wenig aus. Später kommen andere Pilger an, zu denen auch die „Fantastischen Vier“ gehören. So bezeichne ich mittlerweile Lili, Heidi und die beiden Slowenen. Wie sich herausstellt, ist ihre Gesellschaft hier aber gar nicht so unangenehm. Mit Lili gehe ich später sogar noch in die Stadt um etwas zu essen und einzukaufen. Die anderen drei sehe ich nur selten. In unserem Zimmer sind auch zwei junge Engländerinnen untergebracht, von denen eine gerade Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ liest. Ich erinnere mich an die alte BBC-Verfilmung des Buches und Lili hat den kürzlich erschienenen Kinofilm gesehen und so frischen wir alle unsere Erinnerungen an das Buch wieder auf und haben dabei eine Menge Spaß. Als wir schließlich schlafen gehen, zeugen laute Feuerwerksböller in der Stadt von der sich fortsetzenden Fiesta. Das aber wird nicht die einzige Unruhe der Nacht sein.