Donnerstag, 15. Mai 2008

Etappe 16: Von Hornillos del Camino nach Itero de la Vega

Es ist Mittwoch der 8. August 2007.

Nach einer ruhigen aber kühlen Nacht mache ich mich nahezu als erster unserer Herberge gegen 6 Uhr auf den Weg durch die noch finsteren Mesetas. Im Ort selbst erhellt noch die ein oder andere Laterne den Weg doch schon bald ist es zwischen den weiten Ebenen sehr finster und aufgrund der Stille auch etwas unheimlich. Es scheint nur mich, den Weg, eine leichte Brise und endlose Finsternis auf der Welt zu geben und weit und breit kein Mensch und keine Zivilisation. Die Sterne scheinen über mir und spenden als einzige ein wenig Licht. Immerhin kann ich den Weg nicht verfehlen, denn hier gibt es nur einen Weg. Für einen Moment denke ich daran, die Musik auf meinem Handy ein wenig spielen zu lassen, denn dies würde mich beim Laufen motivieren und Pilger, die es stören könnte, scheint es ja jetzt noch nicht zu geben. Ich lasse es aber und lausche stattdessen der Stille. In der Ferne kann ich auf einmal einen Umriss ausmachen und bald wird klar, dass sich wohl doch schon ein Pilger vor mir auf den Weg gemacht hat. Da ich zügigen Schrittes wandere, überhole ich den älteren Mann bald und wünsche ihm einen guten Weg, was er erwidert. Schon wenige Minuten später scheine ich wieder allein auf der Welt zu sein.

Doch so langsam kämpft sich das Tageslicht durch die Nacht und lässt deutlichere Konturen erkennen. Die Dämmerung zaubert in der nächsten Stunde ein Schauspiel von Farben an den Himmel und über die weite Landschaft. Jeder Moment selbst ist ein Meisterwerk und durch das Weiterlaufen befindet sich jedes dieser natürlichen Gemälde im Fluss. Es ist wunderschön, beeindruckend, als würde die Natur eine Privatvorstellung geben. Und dann taucht die Sonne am Horizont auf und taucht die endlosen Felder der Hochebene in ein orangenes Licht bevor sie alles vergoldet. Was für ein Moment! Es ist fast, als würde man wiedergeboren in einem unbeschreiblichen Licht. Jetzt wird mir klar, was Sieglinde gemeint hat, wenn sie von den Mesetas als einer tiefgehenden Erfahrung gesprochen hat. Schon allein dieses Ritual an diesem Morgen war die Strapazen und Unannehmlichkeiten des gestrigen Tages wert und all das motiviert mich sehr, meinen Weg nun auch wieder in Freude – wenn auch in Einsamkeit – fortzusetzen.
Nach einiger Zeit in der ich von Ebene zu Ebene gelaufen bin, taucht plötzlich und unvermittelt hinter einem Hügel der Kirchturm von Hontanas vor mir auf. Auch das ist eine interessante Erfahrung, denn noch vor wenigen Minuten hätte man meinen können, es gäbe hier kein Dorf oder Stadt weit und breit. Ich beschließe, mich in Hontanas mit einem leckeren Frühstück zu stärken und erlebe dabei, wie die letzten Pilger, die hier übernachtet hatten, den Ort verlassen. Ich fühle mich überaus fit und denke schon jetzt darüber nach, mein ursprüngliches Etappenziel von Castrojeriz nach Itero de la Vega zu verlegen. Immerhin ist es jetzt erst ca. 9 Uhr und bei meinem momentanen Lauftempo wäre ich schon vor Mittag in Castrojeriz. Außerdem würde ich dadurch wieder etwas Zeit gewinnen um spätere Etappen vielleicht kürzer zu halten und trotz der Schönheit, die ich eben erleben durfte, möchte ich die Monotonie der Felder und Ebenen doch recht schnell wieder hinter mir lassen.
Nach Hontanas geht es auf einem kleinen Pfad bei angenehmem Sonnenschein und ein paar Wolken entlang eines Hanges weiter in Richtung Castrojeriz. Dabei fällt mir ein kleines Mäuschen auf, welches vor mir auf dem Pfad davonläuft und ich freue mich über diese kleine kurze Begleitung auf dem Weg. Wenig später hoppelt auch noch ein kleiner Hase nur wenige Meter vor mir über den Weg und das freut mich noch mehr. Ich hatte den Kleinen wohl aufgescheucht und nun hüpft er eilig davon.
Bald danach geht der Weg auf der Landstraße weiter, geschützt von einer Baumallee. Weit hinter mir höre ich einen singenden Italiener. Der ist zwar bestimmt 300 Meter oder mehr entfernt, aber ich höre bis hierher, dass er furchtbar singt und denke nur, dass er der Operntradition seines Landes keine Ehre macht. Dann fällt mir der singende Koreaner von gestern ein und ich muss lachen. Da der Italiener aber irgendwie gar nicht mehr aufhört, fängt es irgendwann doch an zu nerven.
Inzwischen komme ich an der Klosterruine von San Antón vorbei, durch deren früheres Bogengewölbe heute die Landstraße verläuft. Das alles verleiht dem Ort eine seltsame Stimmung. Zum einen die alten Gemäuer, die eine jahrhundertealte Tradition widerspiegeln und zum anderen die Landstraße, auf der auch gerade ein Bus durch die Ruine fährt, der die Moderne repräsentiert mit all ihren Errungenschaften und Komforts. Das verbindende Element ist der Pilgerweg, dessen ursprünglichem Verlauf die heutige Landstraße noch immer folgt und der sie nun durch die Ruine führt.
Genau wie erwartet, komme ich noch vor Mittag in Castrojeriz an und entscheide mich nun endgültig, weiter nach Itero de la Vega zu ziehen und mache nur eine kurze Pause um Wasser am Brunnen nachzufüllen und mich kurz auszuruhen. Das Wetter ist fantastisch, die Sonne scheint, aber es geht ein frischer Wind, der die Wärme wegnimmt und ein paar Wolken spenden ein wenig Schatten. Castrojeriz zieht sich furchtbar lang und am Ende des Ortes wird der Blick auf den Tafelberg Alto de Mostelares frei, den es sogleich zu besteigen gilt. Vorher treffe ich aber wieder auf Berit und Konstanze, die in Castrojeriz übernachtet und damit gestern eine Mammutetappe hingelegt hatten. Mit bei ihnen ist Vico, ein junger Farbiger, der aber aus Leipzig kommt und in seinem riesigen Rucksack auch noch ein Zelt mit sich herumschleppt. Vico war uns bereits früher begegnet und aufgrund seines Gepäcks immer nur als „Der 25 Kilo – Mann“ bekannt. Wir schätzten sein Gepäck auf ungefähr dieses Gewicht (oder hatte er es sogar selbst einmal erwähnt?). Nun lerne ich Vico auch ein wenig näher kennen und er ist, ebenso wie Berit und Konstanze, sehr nett. Dann erklimmen wir den Tafelberg und treffen uns oben zu einer wohlverdienten Pause wieder, denn der Aufstieg war steil und beschwerlich.

Die Aussicht, die man hier einerseits auf das zurückliegende Castrojeriz und andererseits auf die vor uns liegenden endlosen Felder und Ebenen hat, ist aber eine angemessene Belohnung dafür. Eine herrliche Sicht, fast als sei man eine Wolke, die über das Land schwebt; irgendwie majestätisch. Dann aber geht es genauso steil, wie beim Aufstieg auch wieder bergab und jeder Schritt ist eine extreme Belastung für die Knie. Hinzu kommt, dass der Weg mit Geröll übersät ist und man schnell auf den Steinen ausrutschen kann. Aber vorsichtig, wie wir sind, passiert keinem etwas und wir kämpfen uns weiter auf dem staubigen Weg durch schier unendliche goldene Getreidefelder. Dabei wird nun auch die Sonne wieder etwas lästiger. Die umliegenden Hügel scheinen den Wind fern zu halten und somit ist diese tiefere Ebene ein wenig wie ein Kessel.
An der nächsten Wasserstelle verabschiede ich mich von den drei deutschen Mitpilgern vorerst und wandere schnelleren Schrittes weiter. Ich will nun einfach ankommen und mich in ein Bett werfen. Immerhin stellt diese Etappe bei Erreichen von Itero de la Vega für mich einen Rekord dar, denn dann habe ich heute sage und schreibe 32 km absolviert, eine Tagesdistanz, die ich bisher noch nie gelaufen bin.
Wenig später erreiche ich den Rio Pisuerga und überquere damit die Provinzgrenze zu Palencia. Nun ist es nicht mehr weit bis Itero und gegen 14 Uhr komme ich in der dortigen Herberge an. Alles ist sehr gemütlich, ich bin der erste Ankömmling heute und so kann ich die noch herrschende Stille genießen. Es dauert gar nicht lange und Berit, Konstanze und Vico kommen auch an und beziehen das gleiche Zimmer, wie ich, so dass die Deutschen schon deutlich in der Überzahl sind. Am Nachmittag kommt dann noch ein weiterer Deutscher namens Michael, der sogar schon in Leipzig gestartet und bis hierher gelaufen ist und Pauline, eine nette Holländerin, mit der ich auch ein wenig Niederländisch reden kann. Es folgen dann noch weitere Pilger, worunter ein Südtiroler und ein anderer Deutscher und man kann ruhig sagen, dass die Herberge nahezu komplett in deutschsprachiger Hand ist. Die Herbergsmutter ist auch furchtbar freundlich und wäscht sogar unsere Wäsche mit der Maschine und hängt sie sogar auch noch für uns auf. Da die Nachmittagshitze draußen nun aber unerträglich ist, verbringen wir die meiste Zeit im kleinen Garten im Schatten, unterhalten uns, schlafen und lesen. Hinzu kommen noch vereinzelte Blasenbehandlungen, wobei ich nun scheinbar damit keine Probleme mehr habe. Seit einigen Tagen habe ich keine Schmerzen mehr an den Füßen. Beflügelt von dem Wegerfolg des heutigen Tages nehme ich mir vor, morgen sogar noch weiter zu laufen und bis nach Carrion de los Condes zu kommen – insgesamt eine 34 km Tagesetappe.

Mittwoch, 14. Mai 2008

Etappe 15: Von Burgos nach Hornillos del Camino

Es ist Dienstag, der 7. August 2007.

Am nächsten Morgen verlasse ich erst gegen 8 Uhr mein Pensionszimmer, im Vergleich zu den vorherigen Tagen war dies also richtiges Ausschlafen. Wieder bepackt mit meinem Pilgergepäck mache ich mich auf den Weg durch die Altstadt von Burgos, vorbei an der Kathdrale in Richtung Stadtrand. Es ist erstaunlich, aber die Stadt wirkt auch um diese Zeit noch total verschlafen und ist sehr still. Ich beschwere mich darüber nicht, denn das erleichtert mir die Orientierung um auf dem richtigen Weg zu bleiben. Nach einer Weile komme ich durch eine Art Park und erkenne, dass sich hier die große kommunale Herberge befindet und hier scheinen sich einige Radpilger auch gerade auf den Weg zu machen. Schon kurz nach diesem Park ist das Ende der Stadt Burgos erreicht. Ich bin erleichtert, dass mir beim Wandern aus der Stadt ein nochmaliges Industriegebiet erspart bleibt. Stattdessen finde ich mich nun in vorstädtischer Landschaft wieder, die zwar auch nicht besonders sehenswert ist, aber besser als gestern. Es scheinen wenige Pilger unterwegs zu sein, nur ein paar Radpilger überholen mich einmal. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen. Das weckt in mir die Hoffnung, dass nun vielleicht die Jagd auf Herbergsplätze beendet ist. Hinter dem Vorort Villalbilla de Burgos geht es dann wieder recht natürlich zu, mit weiten und hügeligen Getreidefeldern. Das Wetter hat seit unserem Einzug in Burgos scheinbar wirklich umgeschlagen, denn auch heute ist es trüb und bewölkt, ein recht kalter Wind pfeift mir ins Gesicht und zwingt mich sogar dazu, meinen Pullover auszupacken und anzuziehen. Ausgerechnet hier in den Mesetas, denen man im Sommer Temperaturen von bis zu 40 °C nachsagt. Aber auch darüber beschwere ich mich nicht, denn dieses kühle Wetter ist mir lieber als brütende Hitze. Mir schmerzen die Beine, denn das lange Laufen gestern nach Burgos und in Burgos stecken in den Knochen. Auch fällt mir das Alleinsein schwer und oft muss ich an meine deutschen Mitpilger denken. Fast schon widerwillig kämpfe ich mich nun also durch diese Hochebene und weiss schon, dass ich heute nur bis Hornillos laufe. Das sind zwar nur 20 km Tagesstrecke, aber erstens habe ich viel Zeit und zweitens will ich heute einfach nicht weiter. Ich gebe zu, ich bin ein wenig ningelig und will am liebsten niemanden sehen oder sprechen.
Als ich auf der Höhe einer Hochebene mit weitem Ausblick auf Hornillos del Camino pausiere, höre ich einen singenden Asiaten mit seiner Frau ankommen. Der Mann singt schrecklich falsch aber dafür laut und will damit wohl von seiner Anstrengung ablenken, denn so sieht er aus. 'Mann, jetzt auch noch ein singender Koreaner!' denke ich mir und hoffe insgeheim, dass er schnell weiterzieht und ja nicht in der Herberge von Hornillos bleibt. Nachdem der Herr ein wenig Abstand gewonnen hat, mache ich mich auch wieder auf den Weg und wandere weiter. Das Ziel ist ja schon zu sehen. Als ich in den Ort komme, lacht mein Herz, denn ich sehe Berith und Konstanze, die beiden Thüringer Mädels, die ich aus Puente la Reina kenne. Es tut so gut, wieder vertraute Gesichter zu sehen, vor allem da nun scheinbar komplett andere Leute den Weg gehen, Leute, die ich vorher zum Teil noch nicht gesehen hatte. Berith und Konstanze erzählen mir, dass sie noch weiter bis Hontanas laufen wollen, aber für mich ist heute hier definitiv Schluss. Dann entdecke ich auch Rose, die Unitarierin aus Viana, die es sich auf einer Bank gemütlich gemacht hat. Nachdem Berith und Konstanze weitergehen, unterhalte ich mich noch ein wenig mit Rose, die mir erzählt auch in der Herberge hier zu sein. Sie gibt mir den Rat, mich aber zu beeilen, da die Herberge wohl bald voll sei. Also mache ich mich geschwind auf den Weg um die Ecke zur Herberge. Auf dem Weg werfe ich dann auch gleich meine Hoffnung auf das Ende der Herbergsjagd in den Mesetas über Bord. Als ich um die Ecke biege, fällt mein Blick auf zwei weitere bekannte Gesichter: die beiden netten Niederländer, die nach Neuseeland ausgewandert waren und die ich in Belorado das erste Mal traf, grüßten mich herzlich. Welch ein Berg-und-Tal an Gefühlen, einmal traurig, weil ich wieder allein war, dann wieder happy, bekannte Leute zu sehen, dann wieder traurig wegen den immer noch überfüllten Herbergen und dann wieder glücklich, nette Bekannte wieder zu sehen.
Wie auch immer, ich habe Glück und erwische noch ein Bett, wenngleich es an einer Terrassentür steht, durch die es heftig zieht (wieder irgendwie ein Tal). Dann lerne ich zwei Schweizer kennen, die auch ganz nett zu sein scheinen (ein Berg) doch als ich die Duschen benutzen will hat man mehr Glück einen Lottogewinn zu machen, als wenigstens 30 Sekunden lang warmes Wasser abzubekommen (ein tiefes tiefes Tal). Mit anderen Worten, ich habe die Nase so richtig voll und merke gerade, dass mir der Spass am Pilgern, den ich bisher überwiegend hatte, verloren geht. Andererseits finde ich es auch gut, solche Rückschläge zu erleiden, denn immerhin kann diese Pilgerreise keine andauernde Luxustour sein, nein, ich muss auch an solche Grenzen stoßen.
Am Abend kaufe ich ein paar Lebensmittel im örtlichen Laden und lade Rose ein, mit mir gemeinsam zu essen. Ich schlage daher die Einladung der Niederländer aus, mit ihnen ein Pilgermenü einzunehmen. Nach dem Essen setze ich mich noch ein wenig nach draussen in die Sonne. Da setzt sich ein komischer Pilger auf die Bank neben mich und babbelt die ganze Zeit auf französisch mit sich selbst. Ja, es scheint als habe er einen imaginären Mitpilger, mit dem er sich auseinandersetze. Da fällt mir auf, dass ich demselben Mann eben schon beim Einkaufen auf der Straße begegnet war. Da hatte er sich angeregt mit dem Gullideckel in der Straßendecke unterhalten. Damit ist der Tag wirklich perfekt und für mich steht fest, dass ich morgen so schnell wie möglich hier weg will und noch schneller durch die elenden Mesetas kommen möchte.

Dienstag, 13. Mai 2008

Etappe 14: Von Agés nach Burgos

Es ist Montag, der 6. August 2007.

Am Morgen brechen Julian, Sabine und ich in Agés auf. Die Nacht hat ein wenig Abkühlung gebracht und es ist angenehm frisch. Wir begeben uns in der Dunkelheit auf den Pilgerweg, der uns aus Agés heraus auf umliegende Wiesen und Felder führt. Hier scheint sich der Weg im Nichts zu verlieren und an verschiedenen Orten weiter vorn sieht man sporadisch Pilger auftauchen, die entweder ebenfalls ratlos scheinen oder scheinbar sicher ihren Weg verfolgen. Was sollen wir nun machen? Der Wanderführer spricht von einem Zaun, aber den können wir nicht sehen. Aber in der Dämmerung fällt uns ein Steinpfeil auf, der offenbar von pflichtbewussten Mitpilgern gelegt wurde. Diesem folgen wir nun im Vertrauen, dass dies der richtige Weg ist. Bald darauf führt uns dieser Weg wieder bergauf auf eine Hochebene. Dabei ist der Weg durch Wurzeln und Steine etwas mühselig und im Dämmerlicht auch ein wenig gefährlich, denn schnell ist man gestolpert und gefallen. Überhaupt wirkt dieses Stück Weg ein wenig gespenstig im Morgengrauen. Links und rechts sind nur einige Sträucher und man hat irgendwie das Gefühl, von der Ebene oben aus würde man etwas Unerwartetes sehen. Aber dem ist nicht so, einmal oben kann man nur weit ins Land blicken und ein einsamer Sessel in der Landschaft bildet die größte Kuriosität. Er wirkt in der weiten verlassenen Landschaft (wo sind all die Pilger von vorhin, frage ich mich) wie aus einem Flugzeug abgeworfen. Surreal und auch nicht wirklich kraftspendend steht dieser Sessel einfach da. Hier oben weht nun ordentlich der Wind und trübe Wolken befinden sich am Himmel. Nun gehen wir die Schotterpiste wieder hinab und unterhalten uns ein wenig, auch in Vorfreude auf ein schönes Frühstück im nächsten Ort. Dann tauchen auch wieder mehrere Pilger vor und hinter uns auf, so dass man nicht mehr ganz so verlassen ist.
Als wir in das nächste kleine Dörfchen kommen, halten wir Ausschau nach einem Kaffee um zu frühstücken. Vor einer kleinen Bar haben sich schon mehrere Pilger eingefunden, also muss es dort Café con leche (Milchkaffee) und ein Croissant geben. Sabine stellt ihren Rucksack auf einer Bank ab und schaut durch das Fenster nach innen. Plötzlich ruft sie: „Schaut mal wer da ist! Der Peter, die Ute und Sieglinde!“ Unglaublich, aber so kurz vor dem Tagesziel Burgos treffen wir uns also alle wieder und unsere Gruppe ist ein weiteres Mal vereint. Wir gehen herein und werden froh empfangen. Jetzt gibt es erstmal ein leckeres Frühstück und dabei erzählen uns Ute und Peter, dass sie gestern so fit waren und sogar noch über Agés hinaus gelaufen sind. Daher hatten wir uns kurz aus den Augen verloren. Nach dem Frühstück laufen wir sechs dann gemeinsam weiter in Richtung Burgos. Dabei laufen wir zumeist umgeben von vielen anderen Pilgern und es wird sehr deutlich, dass Burgos nicht irgendein Etappenziel auf dem Jakobsweg ist, sondern ein ganz besonderes. Viele beenden hier schon ihren Weg, weil ihnen die Zeit fehlt und sie hier später wieder einsetzen. Auch Ute und Peter werden in Burgos ihren Urlaub beenden und dann wieder zurück nach Deutschland reisen. Andere wiederum beginnen den Jakobsweg in Burgos. Und viele steigen in Burgos in den Zug oder in den Fernbus um die Mesetas zu umfahren und den Weg in León fortzusetzen, wie es Sabine und Julian vorhaben. Und Sieglinde wird sogar von Burgos bis nach Santiago fahren (sie hat den Weg ja auch schon einmal absolviert) um dann noch bis nach Finisterre am Atlantik zu laufen. Die vielen Pilger zeigen aber auch, dass der Weg gut besucht ist und damit ist leider auch oft die Angst um einen Herbergsplatz verbunden.
Wir laufen aber einfach weiter und erblicken schon erste Anzeichen fortgeschrittener Zivilsation, wie geteerte Straßen, Baustellen und die Autobahn. Über all dem schweben zunehmend schwarze Gewitterwolken, die zwar noch in der Ferne zu sein scheinen, aber sich konsequent auf uns zu bewegen. Zwischendurch tröpfelt es immer nur kurz und der Wind bläst uns entgegen. Bei unserer Wanderung und den Gesprächen verpassen wir dann irgendwann den unauffälligen Abzweig, der uns auf einem angenehmeren Weg in die Innenstadt von Burgos geführt hätte.
Darüber ärgere ich mich ein wenig, denn gerne hätte ich mir die industrielle Vorstadt von Burgos erspart. Wenig später erreichen wir Villafria, einen Vorort von Burgos und nun heisst es zum ersten Mal Abschied nehmen. Ute und Peter haben sich vorgenommen, von hier aus mit dem Bus in die Innenstadt zu fahren. Auch die anderen überlegen kurz, mitzufahren, aber für mich kommt dies nicht in Frage, denn ich möchte wirklich den ganzen Weg nur laufen. Wir tauschen noch schnell Adressen aus, verabschieden uns herzlich und sehen schon bald, wie Ute und Peter im Bus verschwinden und in Richtung Burgos abfahren. Sieglinde, Sabine, Julian und ich bleiben zurück an dieser hässlichen lauten Straße. Und zu allem Unglück fängt es jetzt auch noch an heftig zu gewittern und zu regnen. Es gießt aus allen Kannen und wir stellen uns so lange unter und nutzen die Zwangspause, um uns ein wenig zu stärken und dann so gut es geht wetterfest zu machen. Für einen Moment bereue ich es nun, nicht auch mit dem Bus gefahren zu sein und denke mit Graus an die Herberge, die von all den nassen schwitzigen Pilgerklamotten sicher ganz klamm sein wird. Aber dann übernimmt mein Pilgerbewusstsein wieder die Kontrolle und ich finde mich mit der Situation ab. Wir warten noch bis es ein wenig nachgelassen hat und laufen dann los.
Der Weg entlang der Straße ist nervig, das Wetter tut den Rest. Es regnet uns ins Gesicht, die vorbeifahrenden Autos machen Lärm, der durch das monotone Aufstoßen der Stahlspitzen unserer Pilgerstäbe begleitet wird. Immer wieder muss man Pfützen ausweichen und so laufen wir stundenlang weiter und Burgos scheint nicht wirklich näherkommen zu wollen.
Als wir den Innenstadtrand erreicht haben, lädt uns Sieglinde in eine kleine Bar zum Kaffee ein und es tut gut, kurz abzuschalten von diesem Weg, der im Moment so gar nichts von einem Pilgerweg hat. Als wir wieder heraus kommen, hat es wenigstens aufgehört zu regnen und nun müssen wir uns durch den Großstadtdschungel durchschlagen, mit Adleraugen auf gelbe Pfeile achten und dabei immer wieder die Karte studieren um die Herberge zu finden und uns bei all dem auch nicht aus den Augen zu verlieren. Sieglinde stürmt voran, als würde sie schon Jahre in Burgos wohnen und sich auskennen, aber sie vertraut einfach darauf, wegweisende gelbe Pfeile zu entdecken und diesen zu folgen. Bald erkennen wir die Kathdrale und wissen nun, dass wir in der Innenstadt sind und die Herberge nicht mehr weit ist. Kurz vor 14 Uhr erreichen wir die von uns bevorzugte Unterkunft – eine christliche Herberge, die nur ein paar Plätze hat, noch nicht geöffnet ist und wir sind die ersten. Darüber freuen wir uns. Bald schon stoßen noch drei weitere Pilger zu uns, die zum Teil auch aus Deutschland sind. Einer davon erzählt uns, bereits einen Tag in Burgos gewesen zu sein und in einer Pension übernachtet zu haben. Dabei reift sowohl bei mir, als auch bei Sabine der Gedanke, sich diesen Luxus doch auch wieder einmal zu gönnen. Aber wir verwerfen den Plan bald wieder, denn immerhin handelt es sich hier um eine kleine Herberge, so dass die Belastung durch schwitzige und feuchte Pilgersachen gering sein würde. Gegen 14 Uhr öffnet die Herberge und wir werden noch vor Betreten des Hauses eingewiesen. Dazu gehört, dass man die Stiefel noch vorher ausziehen soll und man am gemeinsamen Essen teilnehmen muss um das Gemeinschaftsgefühl zu pflegen. Wir sind etwas überrascht ob dieser stark beschränkenden Nächstenliebe und als wir den Hospitaleros mitteilen, dass wir um 19:30 Uhr gern die Messe in der Kathedrale besuchen würden, wird uns mitgeteilt, dass wir entweder dies machen könnten oder gemeinsam mit den anderen in der Herberge essen könnten. In ersterem Fall müssten wir jedoch wieder gehen und könnten dann nicht hier übernachten. Nun, das war freundlich aber auch sehr deutlich und aus Respekt vor den Regeln dieser Herberge aber auch mit dem Wissen einer vielleicht noch positiveren Alternative (Pension) verabschieden Sabine, Julian und ich uns und gehen. Leider kommt damit aber auch der viel zu schnelle und plötzliche Abschied von Sieglinde, die beschlossen hat, hier zu bleiben. Damit zersprengt sich unsere Gruppe erneut.
Wir marschieren nun doch etwas angefressen ob dieser Haltung der Herbergsleiter in Richtung Innenstadt und suchen uns eine Pension. In Burgos ist eine Pension nichts anderes, als eine riesige Wohnung, mit mehreren Zimmern, die dann an einzelne Besucher vermietet werden. Nicht gerade komfortabel aber immerhin privat im Vergleich zu Pilgerherbergen. Für 24 € habe ich damit für eine Nacht mal wieder ein Einzelzimmer mit Blick auf einen Hinterhof.
Nach kurzer Erfrischung begeben wir uns dann wieder gemeinsam in die Stadt. Das erste Ziel ist das Postamt, bei dem ich 2,2 kg meines Rucksackgewichtes aufgebe und postlagernd nach Santiago vorschicke. Ich hoffe, damit auch meine Rückenschmerzen zu lindern.
Danach versorgen wir uns mit ein paar Lebensmitteln und gehen dann zur Kathedrale. Auf dem Weg dorthin kommen wir durch das mächtige Stadttor, dass trotzig dasteht und von der Macht der einstigen Hauptstadts Kastiliens kündet. Dabei wirkt es aufgrund des hellen Steins fast wie neu und gar nicht, als könnte es Geschichten aus Hunderten von Jahren erzählen. Gleiches gilt für die wundervolle Kathedrale von Burgos. Sie ist so schön verziert und sieht mit ihren vielen Türmchen, Rosetten, Figürchen und Schnörkeln aus, wie eine Mischung aus Kleckerburg und Hochzeitskuchen. Welch ein majestätischer Anblick, ich bin beeindruckt und fasziniert. Schon allein die Außenfassade könnte man stundenlang in ihren Details betrachten, ohne alles wirklich zu erfassen. Die Kathedrale ist ein wahrer Ort zur Ehre Gottes, fast wie der himmlische Tempel selbst, verspielt und dennoch ehrfurchtsvoll. Ich erinnere mich in diesem Moment an das Buch von Ken Follett „Die Säulen der Erde“ und sehe hier eine Art meisterliche Kulisse dazu. Der Eindruck ist im Innern noch stärker. Das Gestein des Domes ist hell, an vielen Stellen gar weiß und dadurch wirkt das gesamte Kirchenschiff wunderbar hell und beruhigend.
Die gotische Architektur ist zart und filigran mit vielen kleinen steinernen Balken, Pfeilern, kleinen Himmelsgerüsten, die sich bis hoch in die Türme erstrecken und dabei wie Zuckerwerk aussehen. Durch die hellen Mauern kommen Hauptaltar, Seitenaltare und das Gestühl wundervoll zur Geltung. Dieser Anblick ist atemberaubend und zugleich zutiefst meditativ. Die vielen Touristen und Pilger stören nicht, es herrscht eine angenehme Ruhe in diesem Gotteshaus, das zweifellos zu einem meiner liebsten gehört, die ich bisher kenne. Im Anblick dieser Schönheit vergisst man schnell den Regen, die nervige Straße im Industriegebiet und die Enttäuschung über engstirnige christliche Herbergen. Ich kann die Wirkung der Kathdrale von Burgos nur schwer in Worten wiedergeben.
Nachdem wir die Kirche verlassen haben, gehen wir noch ein wenig durch die Innenstadt und bummeln durch die Läden. Ich besorge mir in einer Buchhandlung ein Buch, denn ab morgen werde ich wieder allein unterwegs sein und könnte vielleicht ein wenig Zerstreuung am Nachmittag brauchen. Dann treffe ich mich wieder mit Sabine um die Abendmesse in der Kathedrale zu besuchen, die aber „nur“ in einer der Seitenkapellen stattfindet. Immer wenn ich diese Messen besuche, empfinde ich dies als sehr wohltuend, zum einen weil viele andere Pilger auch daran teilnehmen, zum anderen weil die Festlichkeit katholischer Messen auch einen schönen Kontrast bildet zum einfachen und schmucklosen Dasein des Pilgers. Auch behalte ich dabei den eigentlichen Sinn meiner Pilgerreise, nämlich den einer bewussten Reise mit Gott, im Auge. Und noch einen Grund hat der Besuch dieser Messe: auch für mich ist diese Stadt und diese Etappe ein wichtiger Einschnitt auf dem Weg. Von nun an folgen die Mesetas mit wer weiss was für Herausforderungen landschaftlicher, wettertechnischer und zwischenmenschlicher Natur. Ich werde nun wieder weitestgehend allein unterwegs sein, wohl begleitet von anderen Pilgern, aber dennoch fern von Freunden und Familie und fern von den Menschen, die ich bis hierher kennen- und schätzen gelernt habe.
Am Abend dann essen Sabine, Julian und ich noch gemeinsam in der Pension zu Abend und dann heisst es wieder einmal Abschied nehmen. Morgen werden sie, wenn ich aufstehe, schon auf dem Weg nach León sein und ich werde mir meine Schuhe anziehen, meinen Stock nehmen und weiter laufen, bis nach Santiago zum Grab des Apostels und meinem großen Ziel.

Montag, 12. Mai 2008

Etappe 13: Von Belorado nach Agés

Es ist Sonntag, der 5. August 2007.

Morgens um 5:30 Uhr beginnt unser Marsch wieder, obwohl die Füße schmerzen und obwohl die Nacht weniger erholsam war, als gedacht. Es war recht warm im Schlafsaal und im Ort ging die Fiesta bis in die frühen Morgenstunden weiter, so dass es etwas laut war. Eigentlich scheint das Fest sogar jetzt noch im Gange zu sein, wenngleich die Anzahl der Feiernden doch nachgelassen hat. Aber immerhin, wir Pilger machen uns wieder auf den Weg und die Leute von Belorado feiern noch immer. Ich gehe wieder mit Sabine und Julian und am heutigen Tag steht eine relativ lange Etappe von fast 30 km bevor, die uns durch die Montes de Oca führen wird, eine kleine Gebirgsgruppe entlang des Jakobsweges. Gestern abend aber haben Julian und ich uns noch eine kleine Motivationshilfe zugelegt: In der Herberge von Belorado gab es T-Shirts mit aufgedruckten Füßen, die mit Blasenpflastern übersäht sind und vom Schriftzug „NO PAIN – NO GLORY“ umrandet sind. Wir beide fanden diese T-Shirts toll und sie sollen uns und andere Pilger ermutigen, bis Santiago durchzuhalten und so den Schmerz (PAIN) zwar jetzt zu ertragen, aber eigentlich nur, um dann in Santiago de Compostela den Ruhm (GLORY) auch verdient zu genießen. Mich erinnert das T-Shirt plötzlich wieder an das, was Martin oder Sören mir vor einigen Tagen gesagt hatten: „Embrace the pain as your friend!“ (Umarme den Schmerz als deinen Freund!). Damals konnte ich das nicht so ganz nachvollziehen, aber der Text des T-Shirts macht es noch einmal auf andere Weise deutlich. Die Schmerzen, die wir Pilger nun auf dem Weg erleben, werden im Glanze des Ruhmes beim Einzug in Santiago verblassen und doch gehört das eine zum anderen.
Während ich mir diese Gedanken mache, zieht die kastilische Landschaft an uns vorüber und wir kommen nach Villafranca-Montes de Oca. Hier frühstücken wir erst einmal und ruhen uns ein wenig aus. Da mein Rücken schon wieder – oder besser immer noch – schmerzt, hat mir Sabine auf dem Weg einige Yoga-Tricks gezeigt, die tatsächlich helfen, wenigstens eine Weile. Irre, so komme ich auch noch zu Yoga!!!
Hinter Villafranca geht es steil bergauf, die Berge warten auf uns. Viele unserer Mitpilger stöhnen und für Gespräche bleibt nicht viel Luft. Sabine schickt Julian und mich voraus, weil sie etwas langsamer gehen möchte. Auf den Bergen oben hat man eine schöne Aussicht und irgendwie kommt es mir vor, wie eine Mischung aus Erzgebirge, Thüringer Wald und Schwarzwald. Doch schon bald laufen wir im Schatten einiger Bäume. Leider ist der Schatten nicht unbedingt nötig, denn es ist seltsam trüb geworden – nicht wirklich bewölkt, aber auch nicht sonnig. Es herrscht eine schwüle feuchtwarme Luft, die den Aufstieg in die Hügel nicht gerade erleichtert. Am Boden unterhalb der Baumkronen wächst ein weiter Farnwald, der uns fast vermuten lässt, wir seien in die Urzeit gewandert und jeden Moment könnte uns irgendeine komische Urechse angrinsen. Das passiert aber nicht und bald schon haben wir den „Urwald“ wieder verlassen.
Nach einer Weile kommen wir an ein eher hässliches Denkmal zu Ehren von Republikanern, die im spanischen Bürgerkrieg 1936 ermordet wurden. Hier legen wir drei wieder eine kurze Pause ein. Dabei bietet sich uns ein beeindruckender wenn auch etwas ehrfuchtsvoller Anblick des weiteren Weges. Gleich hinter dem Monument geht es nämlich extrem steil bergab auf einem kleinen mit losen Steinen übersäten Pfad. Dieser endet vorerst in einem kleinen engen Tal bevor er gleich darauf wieder extrem steil in gleicher Qualität nach oben führt. Es bietet sich uns also ein wirkliches V-Tal, welches wir durchwandern müssen und irgendwie drängt sich mir der Gedanke auf, dass man hier extra um die Pilger zu ärgern, keine Brücke gebaut hat. Wir steigen also vorsichtig hinab und stellen fest, dass, je tiefer wir kommen, es tatsächlich kühler wird. Als wir unten ankommen und gleich wieder bergauf gehen wollen, fällt Julian ein, dass er seinen Wanderstock am Monument vergessen hat. Dieser Junge hat schon öfter Dinge unterwegs vergessen und musste damit wohl jedesmal wieder etwas dazulernen. Diese Lektion könnte aber einen tieferen Eindruck hinterlassen, denn nun muss er tatsächlich den Berg wieder hoch, dann wieder runter und auf der anderen Seite wieder hoch. Ich nehme an, er wird danach wohl so schnell nichts vergessen. Sabine und ich warten solange und ruhen uns an dem kleinen Bächlein im Tal aus.
Nach kurzer Zeit kommt Julian – mit Stock – wieder und ist auch sofort zum Wiederaufstieg bereit. Ein echter Gebirgsmensch! Also geht es los und nun bergauf.
Oben angekommen schauen wir nur kurz auf das absolvierte Teilstück zurück bevor es durch den Wald auf einem trockenen Weg weitergeht. Es ist nun fast Mittag, wir alle sind schon ziemlich erschöpft und sehnen das Ziel herbei. Doch irgendwie will der Weg kein Ende nehmen. Zwar ist es schön, mal wieder in einem Wald zu gehen, aber da der Weg aus weißem Schotter besteht und die Sonne diesen nun wieder gleißend scheinen lässt, wird das alles bald ziemlich lästig. Hinzu kommt, dass es furchtbar warm wird und uns allen die Füße brennen. Bei mir schmerzt der Rucksack weiter, doch daran habe ich mich nun auch schon gewöhnt. Sogar der Wasservorrat neigt sich langsam dem Ende und nach jeder Kurve hoffen wir, endlich wieder Zivilisation zu sehen. Aber nein, der Weg schlängelt sich weiter und erst in der heißen Mittagssonne verlassen wir den Wald und hören in der Ferne die Glocken des Klosters San Juan de Ortega.
Völlig erschöpft, müde und durstig erreichen wir einen schattigen Brunnen am Fuße des Klosters. Jetzt erstmal raus aus den Schuhen, trinken und sitzen. Von mir aus endlos lange sitzen. Sabine und Julian sind auch sehr erschöpft, aber in San Juan wollen wir nicht bleiben. Bis Agés sind es noch einige Kilometer und dort wartet – laut Wanderführer – eine schönere Herberge auf uns als hier. Aber bevor es weitergehen kann, müssen wir ausruhen. Einige ältere Leute kommen zum Brunnen und uns fällt auf, dass ihre Socken noch seltsam weiß sind. Wir schauen uns um und sehen einen Bus stehen. Aha, das sind wohl die sogenannten Buspilger, die von einem Ort zum nächsten fahren. Naja, mir fällt wieder die Sache mit dem Schmerz und dem Ruhm ein, aber ich erlaube es mir selbst nicht, zu urteilen.
Wir drei ziehen unsere Schuhe wieder an, machen uns wieder auf den Weg, aber nur um in der ca. 100 Meter entfernten Taverne erstmal eine schöne kühle Cola zu trinken. Die haben wir uns aber auch verdient. Dann geht es weiter nach Agés. Der Weg windet sich wieder durch Wald und geht dann auf weiten hügeligen Wiesen und Feldern weiter. Es weht ziemlicher Wind, was die Sonne erträglich macht und gegen 14 Uhr erreichen wir Agés, ein verträumtes altes und fast leblos anmutendes Örtchen. Wir finden die Herberge, die uns wohlwollend und freundlich aufnimmt. Sie ist auch sehr schön und gepflegt eingerichtet mit sauberen Bädern und nicht all zu großen Schlafräumen. Wir haben uns für die private Herberge entschieden, doch die kommunale Herberge ist gleich im Haus nebenan. In unserem Zimmer treffen wir auch das koreanische Ehepaar wieder, das wir schon in Belorado gesehen haben. Nach dem Duschen und Wäschewaschen kommt auf einmal ein ziemlicher Sturm auf und es fängt an zu gewittern. Das erste Gewitter hier und irgendwie hatte es das Wetter des Tages auch erwarten lassen. Aber meist donnert und blitzt es nur, es fallen nur wenige Tropfen Regen. Beim Essen machen wir uns Gedanken, ob Ute und Peter auch hier sind. Wir haben sie seit Belorado nicht wieder gesehen und können uns kaum vorstellen, dass sie in San Juan geblieben sind. In unserer Herberge sind sie nicht, doch als wir so gemütlich vor dem Haus essen, kommt aus der Nachbarherberge plötzlich ein vertrautes Gesicht spaziert: nicht Ute oder Peter sondern Sieglinde, von der wir uns hinter Granon verabschiedet hatten. Sie hatte schlicht in anderen Herbergen übernachtet, als wir und nun treffen wir uns hier wieder. Wir plaudern ein wenig und gehen dann gemeinsam die kleine alte Kirche von Agés ansehen. Diese Kirche ist schön und idyllisch, sie hat etwas märchenhaftes. Das mag daran liegen, weil sie am Rand des kleinen Ortes liegt, der ohnehin schon kaum Menschen zu beherbergen scheint oder daran, dass sie so schön eingebettet in Bäume und Sträucher ist. Es ist ein wenig, wie ein verwunschenes Schloss oder ein vergessener Ort, der dadurch aber sehr persönlich wirkt.

Zurück in der Herberge lege ich mich für den Rest des Abends ins Bett, bin schrecklich müde und die Beine schmerzen. Im Kopf spielen Gedanken an die morgige Etappe – dann geht es nach Burgos, der wohl bisher größten Stadt auf dem Weg. Burgos bedeutet aber auch Abschied von Sieglinde, Sabine und Julian und – falls wir sie nicht ohnehin schon verloren haben, auch von Ute und Peter.