Donnerstag, 31. Januar 2008

Etappe 12: Von Granón nach Belorado

Es ist Samstag, der 4. August 2007.

Nach einer recht angenehmen Nacht wachen wir im leisen Trubel bereits packender Mitpilger im Schlafsaal auf. Viele versuchen sich wirklich leise zu verhalten um die anderen nicht zu stören. Andere aber versuchen sich mittels ihrer Halogen-Grubenlampen, die sie auf dem Kopf tragen, in der Dunkelheit des Raumes zurecht zu finden und alle Sachen zu packen. Dabei machen diese Dinger ein so furchtbar grelles Licht, als würde jemand in voller Inbrunst in den Saal schreien. Von dem ständig wackelnden Lichtstrahl wird damit wohl auch der letzte Pilger wach.


Nachdem wir gepackt haben, brechen Sieglinde, Sabine, Julian und ich auf und begeben uns auf den noch finsteren Weg, der allerdings durch den Mond recht gut erhellt wird. Nach einiger Zeit fällt Julian ein, dass er den Fotoapparat in der Herberge vergessen hat. Noch ist es nicht zu weit, um zurück zu laufen und ihn noch zu holen, aber es wird sicherlich eine knappe halbe Stunde dauern, bis er zurück ist. Für einen Moment sind wir alle ein wenig verwirrt, obwohl wir diese Situation ja doch schon kennen, denn Julian scheint sehr oft Dinge irgendwo zu vergessen. Es ist aber mehr als verständlich, dass man für einen Fotoapparat zurückgeht, sind darauf doch bereits so viele unwiderbringliche Impressionen dieser Reise festgehalten. Julian rennt also zurück zur Herberge und wir drei bleiben auf weitem Feld stehen. Sabine möchte Sieglinde und mich nicht aufhalten und rät uns, doch weiterzugehen. Da meine heutige Tagesetappe aber mit 16 km nur sehr kurz geplant ist und wir zeitlich damit sehr gut unterwegs sind, entscheide ich mich, mit Sabine zu warten. Sieglinde möchte aber doch gern weiterziehen und damit kommt für uns alle sehr überraschend schnell ein Abschiedsmoment, mit dem wir nicht so bald gerechnet hatten. Da Sieglinde, wie auch Sabine und Julian nur bis Burgos laufen und dann auf andere Weise ihren Weg fortsetzen, ist es überdies wahrscheinlich, dass man sich nicht noch einmal auf dem Weg trifft, denn Burgos liegt nur noch zwei Etappen entfernt. Wir umarmen Sieglinde, bedanken uns für die schöne Zeit und wünschen uns alles Gute. Dann wandert sie gemütlich weiter und bald verliert sie sich im Dunkel des Morgens, wo wir sie nicht mehr sehen können. Für einen Moment ist es still. Weit und breit sind nur Felder und wir beide warten auf Julian, der hoffentlich die Fotokamera gefunden hat. Es ist ein komisches Gefühl, gerade jemanden aus unserer Gruppe verabschiedet zu haben und doch wird mir klar, dass es oft so ist im Leben. Es dauert in der Regel immer etwas länger bis man jemanden kennen- und vor allem schätzen gelernt hat und leider kommt viel zu oft ein plötzlicher Abschied, sei es aus veränderten Lebens- oder Arbeitsumständen, aus Krankheit oder Tod.

Nach einigen Momenten hören wir Schritte und denken, es ist Julian, doch es sind andere Pilger, die sich auf den Weg machen und mit ihrer Taschenlampe an uns vorbeiziehen. Kurze Zeit darauf kommt Julian aber und hat auch den Fotoapparat dabei. Er ist offenbar die ganze Strecke gerannt, denn er atmet schnell und ist etwas außer Puste. Naja, er hat seinen Frühsport jetzt jedenfalls schon hinter sich. Wir drei ziehen also weiter durch die endlose Ebene, die das näher kommende Burgos und die dahinter befindlichen spanischen Hochebenen schon ankündigt.

Nach einigen Kilometern kommen wir an die Grenze zur Region Kastilien und lassen das Rioja hinter uns. Kastilien ist neben Aragon die historisch wohl wichtigste Provinz Spaniens und außerdem auch eine, wenn nicht sogar die größte, was uns auch an dem Grenzstein mit Wegmarkierung deutlich wird. Ich merke, wie meine Gedanken um die noch bevorstehende Strecke auf dem Jakobsweg kreisen. Das Rioja war schön, grün und sehr abwechslungsreich wenngleich auch oft sehr heiß um diese Jahreszeit. Vor allem waren die bisherigen Regionen aber dadurch gekennzeichnet, dass ich mit lieben Menschen unterwegs war. Zuerst Carla aus Südafrika, dann die netten Dänen, Roy aus Irland und bisher Sieglinde, Sabine, Julian, Ute und Peter. Jetzt steht also Kastilien an und bei dem Gedanken an die Zeit nach Burgos wird mir ein wenig bang. Vor den Mesetas, also der spanischen Hochebene, habe ich doch etwas Angst, denn ihr werden im Sommer extrem heiße Temperaturen nachgesagt. Außerdem soll es über hunderte von Kilometern sehr monoton durch endlose Flächen gehen, von denen ich ja hier schon einen kleinen Vorgeschmack bekomme. Und dann kommt dazu, dass Sieglinde bereits weg ist, Sabine und Julian in Burgos aus Zeitgründen bis León vorfahren und dann weiterlaufen und Ute und Peter von Burgos aus zurückreisen. Ich werde also dann wieder allein sein. Für einige Momente halten mich diese Gedanken gefangen, doch dann erkenne ich auch die Chance, die in dieser unausweichlichen Veränderung stecken kann. Es wird dann wieder Zeit sein, mich wieder mehr mit mir selbst auseinanderzusetzen, ich werde andere Leute kennenlernen und ich kann vielleicht auch Gott wieder intensiv erleben, ähnlich wie es vielen Wüsteneremiten geht oder ging. Und außerdem sollte ich den Moment genießen und mir weniger Gedanken über die Zukunft machen. Also geht es einfach weiter.


Sabine und ich unterhalten uns auf der Strecke und dabei haben wir viel Spaß, kommen aber auch zu tiefgehenden ernsthaften Themen. Über all dem vergesse ich sogar, dass meine Füße wieder schmerzen und sich leider immer neue Blasen bilden.


Gegen Mittag erreichen wir Belorado und ziehen ein in eine recht schöne gemütliche private Herberge, die saubere sanitäre Anlagen, einen netten kleinen Garten und einen Swimming Pool hat. Nach der obligatorischen Dusche und Wäsche, setze ich mich in den Garten und esse etwas. Neben mir sitzt ein Ehepaar mittleren Alters und beide unterhalten sich auf Niederländisch. Das ist mein Startzeichen und so spreche ich sie auch auf Niederländisch an, denn bisher habe ich von diesen netten Zeitgenossen nur wenige getroffen. Die beiden halten mich auch für einen Landsmann und sind erstaunt, als ich ihnen sage, dass ich Deutscher bin. Es stellt sich im Gespräch heraus, dass beide auch vor ca. 25 Jahren nach Neuseeland ausgewandert sind und dort nun auf niederländische Art Käse machen und dort verkaufen. Auf dem Jakobsweg sind sie schon fast seit Eindhoven unterwegs, mussten aber aufgrund einer Verletzung der Frau zwischendurch wieder umkehren, um dann vom letzten Punkt wieder neu anzufangen. Die beiden sind supernett und wir verstehen uns prächtig, was meine früheren Gedanken über das Alleinesein auf dem Weg wieder in weite Ferne rückt.

Am Nachmittag versorge ich zunächst meine Füße. Entgegen vieler Meinungen gehe ich nun auch dazu über, meine Blasen zu öffnen und austrocknen zu lassen. Das ist zwar ziemlich eklig, aber es nimmt wenigstens diesen furchtbaren Druck auf der Haut weg. Vorher war ich noch eine Runde im Pool schwimmen - eine herrliche Abwechslung zum ständigen Laufen und eine prima Abkühlung bei der Hitze. Dabei treffe ich auch auf ein junges Ehepaar aus Korea. Der Mann ist auch im Pool und hat vom Hals bis zu den Fußzehen überall rote Punkte am Körper. Ute und Peter, die auch hier übernachten, erzählen mir später, dass es sich dabei um Flohbisse handelt, die er sich wohl in einer der Herbergen eingefangen hat. Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich fühle. Ich schwanke zwischen der Angst, ein ähnliches Schicksal zu erleiden und Freude und Dankbarkeit darüber, bisher nicht von gefräsigen Pilgerflöhen verfrühstückt worden zu sein. Es scheint dem Mann aber trotzdem gut zu gehen. Nicht alle Herbergen sind demnach hygienisch so einwandfrei, wie diese.

Am Abend gehen Ute, Peter, Sabine, Julian und ich gemeinsam auf Nahrungssuche, sprich wir wollen uns noch gemeinsam ein Pilgermenü gönnen. Dabei fallen uns zwei Dinge auf: Zum einen ist Belorado erstaunlich lebendig, was sich recht bald dadurch erklärt, dass hier an diesem Wochenende eine Fiesta gefeiert wird. Zum anderen ist es auch am Abend noch schrecklich heiß. Als wir durch die Stadt laufen, fällt uns eine dieser digitalen Thermometeranzeigen auf, die uns gegen 19 Uhr satte 39°C in der Sonne anzeigt. Unglaublich! Wir suchen uns dann eine nette Lokalität, die ein Pilgermenü anbietet, doch vorher müssen wir noch ein wenig warten. Ute und Peter laden uns in dieser Zeit zu ein paar Tapas ein, leckeren kleinen Häppchen verschiedenster Art, die wunderbar vielfältig sind und prima schmecken. Der Abend klingt dann bei einem durchschnittlichen Pilgermenü aus, bei dem wir auch an Sieglinde denken müssen, die nun nicht mehr bei uns ist.

Mittwoch, 30. Januar 2008

Etappe 11: Von Azofra nach Granón

Es ist Freitag, der 3. August 2007.

Nach einer angenehm ruhigen Nacht in unserem Zwei-Bett-"Zimmer" wache ich irgendwie doch zu früh auf. Heute wäre mal so ein Moment, wo ich gern wieder aussschlafen würde. Aber leider wird nun auch immer deutlicher, dass wir uns in einem regelrechten Pilgerstrom befinden und die Masse der Mitlaufenden macht mich zumindest manchmal unruhig über dem Gedanken, ob ich an meinem Wunschziel des Tages noch ein Bett bekomme. Und dann ist ja da auch noch die Mittagshitze, die einem den Spaß am Laufen trübt und schon allein deshalb ist es vernünftig, die angenehme morgendliche Kühle auszunutzen. Ich stehe also auf und merke, dass mein Fuß nicht mehr ganz so sehr schmerzt. Vielleicht geht es ja doch wieder bergauf, also wenigstens was den Fuß betrifft. Sieglinde ist auch schon wach und hat gepackt und bald schon sind wir wieder gemeinsam unterwegs.

Jedesmal wenn man schon so knapp zwei Stunden unterwegs ist und der Sonnenaufgang bevor steht, ist es für mich ein besonderer Moment. Wir laufen immer in Richtung Westen und damit geht die Sonne immer in unserem Rücken auf. In der Tat laufen wir ihr auch ein wenig davon und wollen vor ihr in der Herberge ankommen. Aber diese wunderschöne spanische Landschaft hat auch einen besonderen Zauber bei Sonnenaufgang. Als Pilger nimmt man den Tagesbeginn anders wahr, ja, vielleicht nimmt man ihn überhaupt erst wahr, weil man hier nichts anderes hat, das einem den Kopf zudröhnt. Keine Arbeit, keine Pflichten, außer das Tagesziel zu schaffen. Man ist immer an der frischen Luft (mal abgesehen von den Strecken, die an den Fernverkehrsstraßen entlang gehen). Als Pilger lebt man mit der Natur, mit den anderen Pilgern und vor allem mit sich selbst. Es bleibt auf dem Weg viel Zeit, sich über sich selbst, sein Leben, seine Mitmenschen und über ganz grundsätzliche Dinge des Lebens Gedanken zu machen. Das Leben bekommt auf dem Jakobsweg einen anderen Rhythmus und manchmal trifft man auf wildfremde Menschen und merkt, dass man mit einigen davon im selben Takt schwingt. Andere überraschen einen im positiven oder im negativen Sinn, doch letzteres ist mir hier noch kaum passiert (sieht man mal von den Schnarchattacken ab). Jetzt bin ich schon fast zwei Wochen unterwegs und von Zuhause weg. Ab und an fehlen mir meine Familie und meine Freunde noch, aber ich merke auch, dass ich nun hier auf dem Weg bin und mir gerade die Distanz gut tut und mir Raum verschafft zum Nachdenken und zu einem Perspektivwechsel auf die vielen Dinge, die mich daheim umgeben. Und ich merke auch, dass es mir leichter fällt, mich hier zurecht zu finden, eben meinen Takt im Laufen, im Denken, im Fühlen und in der Wahrnehmung zu finden. Dafür bin ich sehr dankbar und ich bin dankbar für die Menschen um mich herum.

Während wir durch die Rioja Alta ziehen, die mit ihren Getreidefeldern golden unter dem blauen Himmel glänzt, fällt mir wieder das große Ziel ein: Santiago de Compostella. Es sind nun noch weniger als 600 km bis dorthin. Das heisst, ich habe bereits gute 200 km hinter mir, eine große Zahl. Allerdings sind die noch verbleibenden 600 km eine viel größere Zahl und für mich kaum vorstellbar, diese Entfernung noch zu Fuß zurückzulegen. Dennoch, ich merke, dass mir ab und an schon fast visionsartig vor Augen die Ankunft in Santiago erscheint. Diese Momente sind sehr intensiv und die Vorstellung, schließlich dort anzukommen, treibt mir schon jetzt manchmal fast die Tränen in die Augen. Wie wird es wohl erst sein, wenn ich wirklich in die Stadt wandere und dann vor der Kathedrale stehe?
Am späten Nachmittag kommt die Stadt Santo Domingo de la Calzada in Sicht (Bild rechts). Sieglinde, Sabine, Julian und ich nehmen uns vor, dort ein wenig zu pausieren und die örtliche Spezialität zu probieren. Dabei handelt es sich um Ahorcaditos, kleine Gehängte. Das ist ein Blätterteiggebäck in Form einer Pilgermuschel, mit Creme gefüllt und mit einem kleinen gehängten Männlein verziert. Es geht auf eine schöne Legende zurück: Demnach soll im 16. Jahrhundert ein deutscher Pilger auf dem Weg unterwegs gewesen sein und ist nach Santo Domingo gekommen. Dort verliebte sich ein junges Mädchen in ihn, doch der Gute konnte diese Gefühle nicht erwidern. Enttäuscht bezichtigte ihn die Verschmähte des Diebstahls und arrangierte alles, dass der Arme gehängt wurde. Der Heilige Jakobus aber soll den jungen Mann selbst auf den Schultern gestützt haben, als ihn seine Eltern am Galgen ein letztes Mal sehen wollten. Daraufhin rannten diese zum Richter, der gerade beim Mittagsmahl saß und berichteten ihm von dem Wunder. Der Richter soll daraufhin gesagt haben, der Junge sei so tot, wie das Hühnchen, welches er gerade essen wolle, woraufhin das Geflügel aufstand und krähend über den Tisch flatterte.


Als wir in Santo Domingo ankommen und die dortige Kirche (Bilder oben) besuchen, wird uns diese Legende noch zusätzlich veranschaulicht, da man seit diesem Zeitpunkt immer ein Paar Hühner in einem besonders schönen Käfig an der Wand hält. Wir vier ruhen uns dann in einem kleinen gemütlichen Feinkostladen aus und genießen unsere Ahorcaditos bevor es weiter durch die Stadt auf dem Jakobsweg geht. Am Stadtrand überqueren wir den fast ausgetrockneten Rio Oja, nachdem die Region ihren Namen hat und begeben uns in der Mittagssonne weiter nach Granón. Dabei treffen wir nicht nur wieder auf Ute und Peter, sondern auch auf ein paar berittene Pilger. Die sind wirklich nicht so häufig, wie man auch an den Reaktionen der Bewohner von Granón erkennt.
In der Herberge gleich neben der Kirche erhalten wir ein Nachtlager, wieder auf einfachen Turnmatratzen aber dafür hat das alte Gebäude mit direktem Zugang zur Kirche Stil und dieser seltsam heilige Geruch von Weihrauch, der jahrhundertealte Traditionen in sich birgt dringt ab und an in den Schlafraum. Im Laufe des Nachmittags kommen noch viele Pilger und keiner wird weggeschickt, auch als die Herberge an sich schon komplett überfüllt ist. Das bedeutet leider, dass man mitunter Stunden warten muss, um mal die Dusche benutzen zu können und auch die Einladung zum gemeinsamen Essen am Abend wird damit nahezu hinfällig, es sei denn es käme zu einer erneuten Speisung der Fünftausend. Andererseits ist es schön, zu sehen, dass hier für jeden ein Platz da ist auch wenn manche Leute dann im Kirchenschiff schlafen werden.

Da wir vermuten, dass das gemeinsame Essen wenig Individualität besitzt, entschließt sich unsere kleine deutsche Pilgergruppe, gemeinsam im Ort ein Wirtshaus aufzusuchen. Das ist aber gar nicht so einfach, denn so groß ist Granón nicht. Als wir dann eine Art typische Dorfkneipe betreten, empfängt uns die Wirtin mit strahlenden Augen und schlägt uns verschiedene Möglichkeiten vor, uns ein Pilgermenü zu zaubern, indem sie uns nach und nach zeigt, was sie noch so in der Küche hat. Wir lassen uns noch etwas zweifelnd auf ihre Präsentation ein und begeben uns zu Tisch. Die Frau gibt sich große Mühe, schickt sogar ihren Mann noch los, Brot zu holen. Einfach aber sehr liebevoll bringt sie uns leckere eingelegte Paprika, brät uns Fleisch, serviert uns Chorizowurst und fragt dabei immer, ob es genug ist oder ob wir noch etwas wünschen. Wenn wir um etwas mehr bitten, freut sie sich und eilt sofort in die Küche und wenn etwas aus ist, entschuldigt sie sich tausendmal. Es ist das wohl persönlichste Pilgermenü, das ich bisher hatte und in der Gesellschaft meiner Mitpilger und bei gutem Rioja-Wein macht es richtig Spaß. Wir genießen diesen Abend sehr und am Ende sind nicht nur wir glücklich, sondern wohl auch diese überaus nette Wirtin, die ihrem Land in Sachen Gastfreundschaft große Ehre bereitet hat. Damit geht erneut ein gelungener Tag zu Ende.

Dienstag, 29. Januar 2008

Etappe 10: Von Navarrete nach Azofra

Es ist Donnerstag, der 2. August 2007.

Ich wache morgens in der Herberge auf und das erste, was ich spüre, ist wieder dieser stechende Schmerz im Fuß. Unglaublich, dass die Blasen mir jetzt wieder das Leben schwer machen. Viele Pilger sind bereits unterwegs obwohl es noch dunkel ist. Sieglinde ist auch schon am packen, aber sie wartet auf mich und so ziehen wir gemeinsam durch das dunkle Navarrete hinaus in die Landschaft des Rioja. Nach einer Weile schmerzt mein Fuß so sehr, dass ich pausieren muss und Sieglinde läuft langsam weiter. Ich möchte sie auch nicht aufhalten.




Nach einigen Momenten laufe ich langsam weiter und bald beginnt es zu dämmern. Der Weg verläuft nun wieder entlang einer großen Fernverkehrsstraße, die aber zu dieser Zeit noch nicht so stark befahren ist. Dennoch trübt es ein wenig die Idylle. Links von mir erheben sich weitere Weinberge, die der Region alle Ehre machen. Vor mir kann ich weit blicken und den Weg verfolgen, der darauf wartet, dass ich auf ihm voranhumpele. Leider machen es mir die Schmerzen schwer, mich auf Landschaft und auf meine Gedanken zu konzentrieren. Ich meine, in der Ferne Sieglinde erkennen zu können, bin mir aber nicht sicher. Wo die anderen sind, weiss ich nicht. Mir geht ein Gedanke Sörens durch den Kopf, der meinte, zu Hause würden die kleinsten Probleme immer große Schatten auf unseren Alltag werfen. Hier hingegen sei er einfach nur froh, auf dem Jakobsweg laufen zu können und dies würde alle Sorgen hier verdrängen. Mir fällt es im Moment schwer, diesen Gedanken nachzuvollziehen und doch verstehe ich ihn und fühle, dass es auch bei mir so ist. Leider sind aber meine Schmerzen gerade so dominant, dass dieses Gefühl weit entfernt zu sein scheint.


Kurz vor dem Alto de San Anton, einer kleinen Anhöhe, treffe ich auf Ute und Peter, was mich freut und aufmuntert. Die beiden sind fit und laufen nach einem kurzen Plausch gemütlich weiter. Bald darauf komme ich zu den berühmten Steinmännchen (Bilder oben), die Pilger hier nun schon seit langer Zeit aufstellen. Es sind teilweise sehr viele und es ist etwas komisch, diese Armee von steinernen Kollegen zu betrachten. Sie sind Zeugen all jener Menschen, die auch auf dem Jakobsweg gelaufen sind und sie hier errichtet haben, aus welchem Grund auch immer. Und sie kennen all jene, wie mich, die vorbeigelaufen sind und keinen Kameraden aufgestellt haben. Es ist irgendwie ein witziger Ort aber er hat auch etwas mystisches.

Schon bald treffe ich auf Julian, Sabine und Sieglinde und wir entscheiden uns im Angesicht der kleinen Steinleute eine Kleinigkeit zu frühstücken. Anschließend machen wir uns gemeinsam auf den Weg und laufen ein Stück zusammen. Am Alto de San Anton genießen wir eine herrliche Aussicht auf die vor uns liegende Ebene (Bild rechts). Dann geht es weiter durch Weinfelder bis nach Nájera. Auf dem Weg trenne ich mich wieder von der Gruppe und laufe allein. In Nájera verspüre ich Hunger und besorge mir in einem Supermarkt eine Kleinigkeit, die ich an der Straße esse. Es dauert gar nicht lange, bis mich ein älterer Spanier anspricht und mir den Weg weisen will. Er meint wohl, ich hätte mich verlaufen, was zwar nicht stimmt, aber gerne nehme ich seine wohlgemeinte Wegbeschreibung an. Abschließend fragt er mich noch, woher ich komme und als ich ihm sage, dass ich Deutscher bin, lacht er freundlich, nennt ein paar deutsche Städte und wünscht mir einen guten Weg. Schön! Wieder so ein anrührender Moment, für den ich dankbar bin.
Später verlasse ich Nájera wieder, nachdem ich mir das alte Kloster Santa Maria de la Real (Bild oben) wenigstens von außen angesehen habe und laufe über eine Hochebene weiter in Richtung Azofra, in dem ich gerne übernachten möchte. Die Mittagshitze treibt mich wieder voran und nachdem mich Sabine und Julian wieder eingeholt haben, marschieren wir drei gemeinsam zur recht modernen Herberge von Azofra. Hier schläft man in angenehm kühlen Zwei-Bett-Kompartments und erfährt damit erstmals seit langer Zeit wieder so etwas wie Privatsphäre. Kurz nach uns kommt auch Sieglinde an, die das noch freie Bett in meinem Kompartment zugeteilt bekommt. Natürlich freue ich mich darüber, denn vor allem weiss ich, dass Sieglinde nicht schnarcht.
Nach einer angenehmen Dusche und der alltäglichen Wäsche und der Mittagsruhe schaue ich mir die Herberge noch etwas genauer an. Diese ist nun mittlerweile auch wieder voll, besitzt aber auch wieder die angenehme Atmosphäre eines Urlaubsresorts. Plötzlich sehe ich, wie Sören und Lea ziemlich erschöpft auch hereinkommen. Wir begrüßen uns kurz, doch da alle Betten belegt sind, werden die beiden an die örtliche kirchliche Herberge verwiesen. Das ist das letzte Mal, dass ich die beiden sehe.



Nach der Siesta besuchen Sabine und ich den örtlichen Tante Emma Laden. Sie möchte gerne eine vorher gekaufte Limonade umtauschen, weil sie meinte, es sei Wasser mit Sprudel und ich will ein paar Sachen zum Abendessen einkaufen. Die Verkäuferin des Ladens versteht allerdings nichts von dem, was Sabine will und in der Tat ist Wasser mit Sprudel in Spanien eher eine Rarität. Ich muss allerdings ob der Anstrengungen Sabines und auch wegen ihrer teilweisen Frustration herzlich lachen. Ob die Frau es nun nicht verstehen wollte oder tatsächlich nicht verstand, wird sich nicht klären. Jedenfalls war es aber eine lustige Situation. Später gehen wir beide uns noch die Kirche ansehen. Als wir uns ihr nähern, hören wir, wie ein paar Pilger im hinteren Teil der Kirche stehen und einen Kirchenchoral singen. Vorsichtig treten wir ein und setzen uns in die leeren Kirchenbänke. Die Pilger gehören offenbar zu einem Chor und es ist wundervoll ihnen zuzuhören. Als sie fertig sind, höre ich nur, wie sie leise miteinander flüstern und sich offensichtlich darüber unterhalten, dass wir Deutsche sind. Plötzlich stimmen sie das Sanctus aus der Deutschen Messe von Franz Schubert an und singen es auch auf Deutsch. Wir beide sind überwältigt von dem Klang, der Wirkung der Kirche und dieser überaus netten Geste und mir kommen die Tränen. Was für ein wundervoller Moment! Diese Musiker, die wir nicht kennen und die uns nicht kennen, sind uns plötzlich ganz nah. Die Musik verbindet ebenso wie die Erfahrung dieses Pilgerweges und führt uns zusammen. Als sie fertig sind, bedanken wir uns bei ihnen und kommen bei dem Weg zurück zur Herberge auch ein wenig ins Gespräch, obwohl keiner von uns die Sprache des anderen kann. Musik kann eine viel einfachere Sprache sein. Mit diesem wunderschönen Lichtstrahl auf meinem Jakobsweg endet dieser Tag und lässt in der Tat alle Sorgen für den Moment vergessen.

Montag, 28. Januar 2008

Etappe 9: Von Viana nach Navarrete

Es ist Mittwoch, der 1. August 2007.

Am Morgen gegen 6 Uhr wache ich auf und da sind die meisten meiner Mitpilger bereits auf den Beinen. Leider lag auch diese Nacht wieder jemand in unserem Zimmer, der geschnarcht hat, aber weder ist es mir gelungen ihn zu identifizieren, noch war es so ohrenbetäubend, dass man gar nicht schlafen konnte. Noch etwas bedrückt ob der Tatsache, dass ich nun wieder fast allein unterwegs sein werde, packe ich meine Sachen und begebe mich nach unten um eine Kleinigkeit zu frühstücken. Dort sehe ich, dass Sieglinde aus Dresden auch noch da ist und schon geht es mir wieder besser. Gemeinsam stärken wir uns und dann brechen wir gemeinsam gegen 7 Uhr auf.

Der Weg führt uns wieder durch ebene Flächen mit vielen Weizenfeldern in Richtung Logrono. Es ist noch angenehm kühl und durch sehr schöne Gespräche mit Sieglinde vergehen die Kilometer fast wie im Fluge. Bald schon taucht in der Ferne die Stadt auf. Kurz bevor wir aber nach Logrono kommen, treffen wir auf ein kleines Haus am Wegrand, das man in etwa mit Raststation für Pilger beschreiben könnte. Drinnen sitzen eine ältere Frau und eine jüngere sowie zwei Pilger um einen mit kleinen Baguettescheiben und Marmelade gedeckten Tisch und laden uns zu Kaffee und einer kleinen Stärkung ein. Es handelt sich dabei um eine traditionsreiche "Institution". Früher wurde diese kleine Raststation von Dona Felisa geleitet, die den Pilgern einen schönen Stempel in den Pass drückte. Da Dona Felisa 2003 gestorben ist, führt nun ihre Tochter diese Tradition weiter. Bei dieser Gelegenheit treffen wir auch auf Berit und Konstanze, die beiden jungen Damen, die ich auch in Puente la Reina schon kennengelernt hatte. Gemeinsam stärken wir uns ein wenig und empfangen den beliebten Stempel. Als Sieglinde ins Gästebuch schaut, weist sie mich auf eine nette Botschaft in Deutsch hin. Ich freue mich riesig und bin gerührt, denn sie stammt von Sabine und Julian, die sich auf diesem Wege bei mir verabschieden. Wo mögen sie jetzt wohl sein?

Nach einer Weile gehen Sieglinde und ich weiter nach Logrono. Wir überqueren den Ebro und besichtigen die Innenstadt. Es ist noch Vormittag und damit lebt auch Logrono noch. Wir besuchen zunächst die Iglesia de Santiago el Real (unten links), eine Kirche, die dem heiligen Jakobus geweiht ist. Vor ihr befindet sich auf den Pflastersteinen ein Juego de la oca, ein beliebtes spanisches Kinderspiel, das in Verbindung mit dem Jakobsweg steht. Wir stehen etwas ahnungslos davor, erkennen aber einige Städtenamen, die zum Jakobsweg gehören und schon eilt ein Spanier herbei, der es uns erklären will. Nur leider reicht unser Spanisch nicht aus, um etwas Zusammenhängendes zu verstehen. Später begeben wir uns noch zur immens großen Kathedrale von Logrono (unten Mitte). Schon allein ihr Frontportal (unten rechts) ist so groß, dass man sich winzig vorkommt.



Da es nun zwar bald Mittag ist, ich mich aber recht fit fühle und die Herberge erst in einigen Stunden öffnet, entscheide ich mich mit Sieglinde weiter bis nach Navarrete zu gehen. Ich hoffe gleichzeitig aber auch, meine guten bekannten Mitpilger wiederzutreffen. Außerdem ist mir die Stadt ein wenig zu laut. Also stärken wir uns noch mit leckeren saftigen Pfirsischen und begeben uns wieder auf den Weg. Gerade am Ortsende wird Logrono furchtbar hektisch und betriebsam. Der viele Verkehr und das monotone, lieblose Industriegebiet am Stadtrand lassen viel Romantik des Weges vergessen und so bin ich froh, als die Stadt hinter uns liegt. Allerdings brennt nun die Sonne auch wieder erbarmungslos auf uns hernieder. Leider kann auch das Naherholungsgebiet mit seinem großen See, an dem wir entlang laufen, diese Hitze nicht wirklich mildern. Wir machen noch einmal eine Pause unter einigen Bäumen und laufen dann weiter. Meine Füße schmerzen nun wieder und dummerweise scheine ich nun an meinem rechten Fuß wieder genau dort eine Blase zu bekommen, an der ich vorher schon eine hatte. Es geht durch Weinberge und dann entlang einer Autobahn, die mit ihrer Lautstärke einfach nur nervt. Nur die manchmal ertönenden Hupen einiger vorbeibrausender LKWs sind eine Abwechslung, sind sie doch als Ermutigung für die Pilger gedacht.

Gegen 14 Uhr erreichen wir Navarrete, das uns auf einer Anhöhe bereits erwartet. Durch die sengende Nachmittagshitze laufen wir durch die Stadt zur Herberge. Wir erhalten noch zwei Betten unter dem Dach und schon bald wird klar, dass wir zu den letzten gehören, die noch unterkommen. Später werden viele Pilger weitergeschickt, weil alles belegt ist. Die Herberge ist recht modern ausgestattet und sauber. Nach einer erfrischenden Dusche bemerke ich im Speiseraum das österreichische Ehepaar von vorher. Ich freue mich, sie wiederzusehen und als ich näherkomme, sitzen auch Sabine, Julian, Peter und Ute mit im Speiseraum. Die Wiedersehensfreude ist sehr groß und dann wird sich erstmal gestärkt. Für diesen Moment sind alle Strapazen dieser Etappe und auch der furchtbar stechende Schmerz am rechten Fuß vergessen. In dieser Runde fühle ich mich wieder sehr wohl und geborgen. Später treffe ich auch die Amerikanerin Rose wieder, die mich mit einer erstaunlichen Nachricht überrascht: Sie erzählt mir, dass zwei der Dänen, von denen ich ihr erzählt hatte, auch hier in der Herberge seien. Ich bin völlig sprachlos, hatte ich doch nicht mehr geglaubt, sie wiederzusehen.

Am späten Nachmittag kaufe ich ein paar Sachen ein, denn unsere kleine deutsch-österreichische Pilgergruppe möchte heute Abend gemeinsam essen und so ein wenig das Wiedersehen feiern. Außerdem versorge ich mich in der Apotheke mit Oropacks, um den Schnarchern der Welt den Wind aus den Nüstern zu nehmen. Bisher ist es mir aber nicht gelungen, die beiden Dänen zu finden, die wahrscheinlich noch erschöpft in den Betten liegen. Erst am Abend, nach unserem Essen, begebe ich mich nach draußen zur kleinen Weinstube vor der Herberge und dort sehe ich Sören und Lea wieder. Wir alle freuen uns riesig, uns wiederzusehen und haben uns trotz der wenigen Tage so viel zu erzählen. Schon gleich entwickelt sich ein sehr angenehmes und auch tiefgehendes Gespräch und wieder bemerke ich, wie gut ich mich mit den beiden verstehe und wie viele nützliche Denkanstöße aus diesen Gesprächen erwachsen. So reden wir eine Weile, bevor wir uns dann wieder einmal verabschieden, nun aber mit der Aussicht uns wohl nicht noch einmal auf dem Weg zu begegnen. Der Abend und der anstrengende Tag klingen dann also bei einem gemütlichen Glas Rioja aus. Bevor ich aber in der aufgeheizten Dachstube der Herberge zum Schlafen komme, bietet sich mir noch ein etwas befremdlicher Anblick. Überall liegen Pilger auf den Betten und pflegen ihre Wunden an Füßen und Knien. Jeder wendet sein Mittelchen an, was die ohnehin stickige und warme Luft des Raumes in eine ätherische Mischung verwandelt, die man sonst wohl nur in Hexenküchen findet. Hinzu kommen die lazarettähnlichen Ansichten leidender und erschöpfter Pilger. Im Dunst dieser Wahrnehmung falle ich dann doch in einen oropack-geschützen Schlaf.

Sonntag, 27. Januar 2008

Etappe 8: Von Los Arcos nach Viana

Es ist Dienstag, der 31. Juli 2007.

Nachdem ich gegen 1 Uhr nachts endlich einen ruhigen Platz unter dem Dach bekommen hatte und wenigstens ein paar Stunden schlafen konnte, wache ich gegen 5:30 Uhr wieder auf und begebe mich leise nach unten in den Gemeinschaftsraum. Dort herrscht zu meinem Erstaunen schon reges Zusammenpacken. Nahezu das gesamte Zimmer, in dem ich noch bis vor dem Schnarchanschlag wohnte, ist schon auf den Beinen. Mir ist auch klar, warum und als ich in die verknitterten Gesichter von Ute, Peter und Sieglinde schaue, wird meine Vermutung bestätigt. Der Schnarcher sollte wegen Terrorismus eingesperrt werden!

Ich packe also auch meine Sachen und dabei fällt mir auf, dass das corpus delicti zusammen mit seinem Begleiter ja auch schon wach ist und seltsam erholt aussieht. Naja, kein Wunder!

In der Dunkelheit verlasse ich die schöne Stadt Los Arcos und treffe beim Laufen auch schon bald wieder auf die nette junge Frau, mit der ich mich gestern abwechselnd immer wieder überholt habe. Ich hatte sie in der Herberge von Los Arcos in einem Gespräch dann auch näher kennengelernt und erfahren, dass sie Connie heisst und aus Kanada kommt. Ich treffe also Connie wieder und gemeinsam laufen wir ein Stückchen durch weite ebene Landschaft mit vielen Weizenfeldern über denen dann bald die Sonne glühend aufgeht. Da ich etwas später eine Pause einlegen muss, weil der Rucksack schon wieder irgendwie nicht mehr so recht zu meinem Rücken passen will, trenne ich mich von Connie und sie zieht allein weiter. Sie hat sich als Etappenziel Logrono vorgenommen, während ich plane, nur bis Viana zu gehen. Bald komme ich nach Torres del Rio, einer kleinen Stadt auf einer Anhöhe, die ich aber ohne längeren Stopp durchlaufe (Bild oben). Danach geht es weiter zum Teil an der Strasse entlang und dann wieder durch Heidelandschaft und durch Weinberge (rechts). Ich treffe irgendwann wieder auf Sabine und Julian und wir unterhalten uns kurz. Sabine ist oft sehr witzig. Wir laufen stückweise miteinander, trennen uns dann wieder um uns kurz vor Viana wieder zu treffen. Noch vor dem Mittag erreichen wir Viana und ein österreichisches Ehepaar, das wir auch schon kennen und die sogar schon von zu Hause aus losgelaufen sind, stößt auch zu uns. Gemeinsam beschliessen wir, in Viana zu bleiben und die kirchliche Herberge im Stadtzentrum anzusteuern. Da es gerade mal 11:30 Uhr ist, erleben wir die Stadt noch als munter und aktiv. Ein Kontrast zu Los Arcos und dennoch ist mir Viana gleich sehr sympathisch. Wir kommen tatsächlich in der kirchlichen Herberge unter, die sich in einem Anbau direkt an der Kirche befindet. Ein junger Amerikaner, der hier Hospitalero ist, begrüsst uns freundlich und erklärt uns alles. Oben unter dem Dach ist ein kleiner Raum, der mit ein paar Turnmatratzen ausgestattet ist - unsere Schlafstätte für die kommende Nacht (siehe unten, Dank an Sieglinde für das Foto). Das ist zwar nicht sehr komfortabel, aber dafür übersichtlich und nicht all zu warm. Sabine, Julian und ich ruhen uns ein wenig aus und unterhalten uns dabei. Das Hauptthema stellt natürlich der "Schnarcher von Los Arcos" dar, von dem die beiden Bayern nichts mitbekommen haben, weil sie in einem anderen Raum geschlafen hatten. Bei der Unterhaltung müssen wir aber oft sehr lachen und haben damit auch richtig Spaß. Was würden wir nur machen, wenn der "Schnarcher" plötzlich hier auftauchte und uns eine weitere Nacht heimsuchte?! Wir lachen nur, auch wenn bei mir doch ein wenig Angst davor vorhanden ist. Später taucht auch Sieglinde noch auf und findet einen Schlafplatz in unserem Zimmer. Im Nebenraum finden wir auch Ute und Peter aus Norddeutschland wieder. Damit ist ja unsere Truppe perfekt und wir freuen uns alle, bekannte Gesichter wiederzusehen. Wenig später gehe ich die Treppe hinunter zur Dusche, als ich plötzlich in das Gesicht von Roy blicke. Für einen Moment bin ich sprachlos, dann gehe ich auf ihn zu, umarme ihn herzlich und sage ihm gleich, wie furchtbar dankbar ich ihm bin, dass er mir in meiner Notsituation mit dem Geld geholfen hat. Mir stehen wieder Tränen in den Augen. Auch er freut sich, reagiert aber sehr bescheiden. Er erzählt mir, dass er noch immer große Probleme mit den Füßen hat und daher hier in Viana abbrechen würde um morgen nach Hause zu reisen. Ich sage ihm nur noch, dass er für mich ein Engel auf dem Weg war und er erwidert, ich sei dies für ihn gewesen. Später gebe ich ihm auch seine 20 Euro wieder, die ich extra in einer separaten Tasche meines Rucksackes aufbewahrt hatte. Das sollte das letzte Mal sein, dass ich Roy sehe, denn ein längeres Gespräch oder gar der Austausch von Adressen ergibt sich nicht mehr. Erst etwas später wird mir bewusst, was für ein seltsamer Umstand es ist, dass ich ihn ausgerechnet hier und an diesem Tag wiedersehe, kurz bevor er abreist. Wie dankbar ich dafür und für diesen Menschen bin, kann nur Gott verstehen.


Später am Nachmittag trinken Sabine und ich noch einen Kaffee in der Stadt und genießen die spanische Siesta im Schatten der alten Häuser von Viana. In der Herberge treffe ich eine Pilgerin aus den USA namens Rose. Mit ihr unterhalte ich mich lange über mein Dissertationsthema und sie scheint theologisch sehr interessiert zu sein. Sie selbst ist Anhängerin des universellen Unitarismus, einer Glaubensrichtung, von der ich bis dato noch nichts gehört hatte. Aber es ist interessant, mit ihr zu sprechen.

Am Abend gehen wir gemeinsam in die Messe nebenan und erhalten als Pilger wieder einen besonderen Segen. Danach haben die Hospitaleros ein leckeres Essen zubereitet, zu dem wir herzlich eingeladen sind. Viele Nationen sind am Tisch vertreten und der Umgang ist herzlich. Man fühlt sich einfach gut aufgehoben.

Leider ist die Stimmung auch etwas traurig, denn mein Plan für den morgigen Tag sieht vor, nur eine ganz kurze Etappe zu machen und bis Logrono zu laufen, während Sabine, Julian und die anderen bis Navarrete laufen wollen. Das bedeutet also Abschied nehmen. Insbesondere von Sabine und Julian fällt mir das schwer, denn die beiden sind mir nun mittlerweile ans Herz gewachsen. Die Gefühle beim Einschlafen sind also zweischneidig. Einerseits Freude über einen der schönsten Tage auf dem Camino bisher und andererseits Trauer, weil so frisch gewonnene Freunde schon wieder weg sein werden.

Samstag, 26. Januar 2008

Etappe 7: Von Estella nach Los Arcos

Es ist Montag, der 30. Juli 2007.


Früh am Morgen verlasse ich die Herberge bei angenehm kühlen Temperaturen. Ich merke, dass mir meine Füße noch immer sehr weh tun, wenn ich aufstehe, die Schmerzen dann aber im Laufe des Tages nachlassen. Ob dieses Zustandes freue ich mich ein wenig, denn das Weitergehen ist damit ja gesichert. Nach einigen Kilometern taucht hinter Estella das Kloster von Irache auf, das für seine Fuente de Vino bekannt ist. Hier können sich die Pilger an einer ganz besonderen "Quelle" entweder mit Wein erfrischen oder Wasser tanken. Als ich am Kloster ankomme, sind bereits so viele Pilger dort, dass man meint, es wäre gerade ein Touristenbus gelandet. Natürlich will jeder einmal den Wein probieren, aber wohlweislich haben die Betreiber die Weinzufuhr erschwert. Man muss schon ziemlich pumpen, wenn man überhaupt ein paar Tropfen aus dem kleinen Hahn pressen will. Für einen kleinen Schluck reicht es, aber ehrlich gesagt finde ich den Wein nicht so hervorragend. Das Wasser aus dem Hahn gleich daneben spriesst lebendiger und schmeckt eben wie Wasser. Die Verzierung dieser Quelle finde ich noch am schönsten. Alles andere ist in der Tat eher eine Touristenattraktion. Da sich aber nun irgendwie ein Pilgerstau ergeben hat, laufe ich sozusagen in illustrer Runde weiter, ohne mich dabei aber mit den einzelnen Pilgern zu unterhalten. Es ist nur lustig, dass man irgendwie immer die gleichen Leute überholt, sie freundlich grüsst und man kurz danach von diesen Leuten wieder überholt wird und man sich wieder grüsst.
So geht das dann schon mal mehre Male kurz hintereinander.




Ich genieße die Morgenstimmung, die über dem Tal hinter uns einen schönen Nebelschleier in der Morgensonne zaubert. In der Ferne glüht uns das Kantabrische Gebirge an und wirkt irgendwie wie eine andere und ferne Welt, wohl auch, weil ich weiss, dass mein Weg mich nicht dorthin führen wird. Für mich geht es stattdessen weiter durch Weinberge und Getreidefelder.

Bald erreiche ich Monjardin, einen kleinen Ort am Fuße eines höheren Hügels auf dessen Spitze eine Burgruine thront. Hier gelingt es mir, mich wieder ein wenig aus der Pilgermasse abzusetzen, denn viele kehren hier kurz ein um zu frühstücken. Ich denke an meine Füße und daran, dass sie bei Pausen immer besonders weh tun und laufe weiter. Inzwischen ist auch ein angenehm kühler Wind aufgekommen, der das Wandern bei der steigenden Sonne trotzdem angenehm macht. Ich laufe direkt zwischen den Weinstöcken hindurch und genieße einfach den Moment. Dann werden die Weinberge seltener und die Weizenfelder gewinnen wieder die Oberhand. Es geht auf schönen ruhigen Wegen durch diese Felder, die sich flach vor mir ausbreiten. Ganz weit weg kann ich schon sehen, wo der Weg weiterverläuft und wie sich winzige Pilgerfiguren auf ihm bewegen. Jetzt macht das Laufen wieder richtig Spaß und genau so hatte ich mir den Jakobsweg vorgestellt. Zwar merke ich die Anstrengung in den Beinen und auch wieder in den Schultern und mache immer wieder kleine Pausen, aber es bereitet mir große Freude voran zu kommen und den Blick wieder auf diese schönen Dinge lenken zu können. Immer wieder werde ich von einer netten Frau überholt, die mich wohl wegen ihres Huts ein wenig an eine Safariteilnehmerin erinnert. Wir grüßen uns immer nett gegenseitig, sie zieht an mir vorbei, wenn ich Pause mache und dann hole ich sie bald wieder ein.

Gegen Mittag ist es in der Sonne dann doch wieder ganz schön heiß und in der flachen Ebene gibt es kaum schattige Plätze. Ich muss aber nun doch immer häufiger Pausen machen, da der Rucksack furchtbar schwer wird und die Füße schmerzen. Einmal ziehen an mir mehrere junge Pilger vorbei, die fröhlich singend weiterziehen. Ich denke mir, dass ich eigentlich auch singen könnte, schäme mich aber ein wenig und lasse es dann doch. Ich bin eben kein guter Sänger, auch wenn das hier sicher keinen interessieren würde. Und außerdem fallen mir immer die Texte nicht ein. Allerdings kommt mir gerade ein Lied nicht aus dem Sinn: "Yesterday" von John Lennon und so summe ich es wenigstens vor mich hin und vor meinem geistigen Auge tauchen ein paar Textfetzen auf. Ich denke daran, dass es im Lied heisst, dass gestern aller Ärger noch so ferne war. Mir wird klar, dass dies bei mir anders war. Gestern noch war der Ärger groß und nun aber kann ich unbeschwert weiterpilgern. Dies scheint mir wieder Kraft zu geben und so ziehe ich weiter durch die Mittagshitze.


Nach einiger Zeit - viel länger, als ich vermutet hätte - taucht endlich der Ort Los Arcos auf. Dies soll mein Tagesziel sein. Gleich am Ortseingang gibt es einen Getränkeautomaten, an dem sich die meisten Pilger versammelt haben, um sich ein wenig im Schatten auszuruhen und etwas zu trinken. Hier treffe ich auch die Sänger von vorher wieder. Ich nehme auch eine kurze Auszeit, da ich aber vorhabe hier zu übernachten, begebe ich mich bald wieder auf den Weg um die Herberge zu suchen. Los Arcos ist um die Mittagszeit ein niedliches verschlafenes Städtchen. In den engen Gassen ist es schattig und angenehm. Ich komme bald in der Casa Austria an, einer kleinen wirklich gemütlichen Herberge, die von einem österreichischen Jakobsverein geleitet wird. So empfängt mich auch eine freundliche junge Österreicherin und weist mich ein. Mit mir sind neun weitere Pilger im Zimmer, das sich nun recht schnell füllt. Beim Wäschewaschen lerne ich Sieglinde aus Dresden kennen, die mich ganz offensiv anspricht. So entwickelt sich ein Gespräch unter uns beiden, dass schon bald eine gewisse Tiefe erhält, als jeder von seinen Erfahrungen auf dem Camino spricht. Bald darauf kommt Peter dazu, der aus Norddeutschland kommt und zusammen mit seiner Frau auf dem Jakobsweg unterwegs ist. Wir drei unterhalten uns sehr angenehm und so wird die ohnehin schon sehr angenehme Herberge fast wie ein kleines Zuhause auf dem Weg, in dem man sich umgeben von netten Menschen sehr wohl fühlt. Später treffe ich auch Sabine und Julian wieder, die ich ja schon aus Puente la Reina und Estella kenne. Zwar bin ich damit im engeren Umkreis von vielen Deutschen, aber ich verstehe mich mit allen gut und fühle mich wohl. Es stellt sich heraus, dass Sieglinde, Peter und seine Frau Ute auch im selben Zimmer schlafen, wie ich.

Am späten Nachmittag wage ich mich nochmal in die Hitze Spaniens hinaus, um mir Los Arcos ein wenig genauer anzusehen, ein paar Dinge einzukaufen und mich in der Apotheke mit Magnesium zu versorgen. Es ist sehr idyllisch hier. Die Stadt wirkt gemütlich wie ein Wohnzimmer, dass mittelalterlich eingerichtet ist. Und auch die Menschen sind sehr freundlich, was das Pilgerherz richtig freut. In der Panaderia - eigentlich einer Bäckerei, die aber vielmehr wie ein guter alter Tante-Emma-Laden daherkommt - würdigt die Verkäuferin auf sehr freundlich Art meine Versuche, mich in Spanisch zu verständigen. Das ist wie Balsam für die Seele und ich merke, dass sie sogar auch ganz gut Deutsch spricht. Auch in der Apotheke ist die Frau sehr nett und freut sich, mir mit Magnesiumtabletten helfen zu können. Das sind ganz einzigartige Momente auf dem Weg, die einem die persönliche Nähe zum Land und der Region schaffen. Und das ist auch ein wenig Bestätigung dafür, dass dieser Pilgerweg eine gute Sache ist, für die Pilger und die Menschen, die davon leben.


Ich komme zurück in die Herberge, gut ausgestattet mit einer örtlichen Spezialität, den Rosquillas de Los Arcos. Das sind frittierte Kekse, die ordentlich satt machen und auch für die morgige Etappe noch reichen. Also gehe ich gut gestärkt ins Bett und möchte schlafen. Auch andere Pilger befinden sich schon im Bett. Jetzt wird es langsam ruhiger. Leider gibt es aber auch ein paar Pilger, die direkt vor unserem Fenster den guten Wein genießen und sich dabei lauthals feiernd und lachend ständig versprechen, sich einmal gegenseitig besuchen zu wollen. Das geht bis weit in die Nacht und man merkt, dass es alle schlafwilligen Pilger im Raum stört. Erst als spät jemand etwas zu den Feiernden sagt, kehrt langsam Ruhe ein. Es gelingt mir, für einige Momente einzuschlafen, aber dann geht das Drama leider erst richtig los. Gleich neben mir auf dem Hochbett fängt ein Spanier an, furchtbar laut zu schnarchen. So etwas habe ich aber auch wirklich noch nie gehört. Es ist fast mechanisch und klingt wie eine Höllenmaschine. Mir geht ständig durch den Kopf, dass ich morgen wieder früh raus muss, um der Hitze zu entgehen. Wenn ich also nicht bald Schlaf finde, komme ich kaum 100 Meter weit. Doch der Spanier hat sich definitiv vorgenommen, den Wald, der in Spanien noch steht mit brutalster Nasensäge abzuholzen. Ich bin frustriert, genervt und unendlich müde. Mir scheint, dass auch alle anderen nicht schlafen können, es liegt eine seltsame Unruhe in der Luft. Manchmal rüttelt jemand an dem Bett, aber das bringt nur kurzzeitige Abhilfe. Gleich geht es weiter mit dem Geratze. Entnervt beschließe ich, meinen Schlafsack zu nehmen und mich draußen im Aufenthaltsraum in einen Stuhl zu setzen um wenigstens ein wenig zu schlafen. Kurz vorher kommt mir noch der Gedanke, den Schnarcher mit meinem Pilgerstab in einen tieferen Schlafzustand zu versetzen, aber ich lasse es aus reiner christlicher Nächstenliebe. Ich gehe raus aus dem Zimmer und setze mich in einen Stuhl. Erst jetzt bemerke ich, dass ein junger Hospitalero noch am Computer sitzt. Er fragt mich ruhig, was los sei und ich erkläre, dass es unmöglich sei, dort drinnen zu schlafen. Daraufhin springt er auf und führt mich bis unter das Dach, wo noch einige Matratzen auf dem Boden liegen, die nur teilweise belegt sind. Er bietet mir an, dort zu schlafen, was ich dankend annehme. So komme ich wenigstens zu einigen Stunden Schlaf und Los Arcos hat sich auch in der Tiefe der Nacht wieder als sehr pilgerfreundlicher Ort erwiesen.