Montag, 22. Oktober 2007

Etappe 6: Von Puente la Reina nach Estella

Es ist Sonntag, der 29. Juli 2007

Um 5 Uhr klingelt mein Handywecker und ich stehle mich aus dem Zimmer der Herberge. Jedes Mal, wenn ich den Fuß aufsetze, ist es als würde mir jemand mit einer langen spitzen Nadel in den Fußballen stechen. Die Blase tut morgens nach dem Aufstehen besonders weh. Ich packe meine Sachen zusammen, mache mich reisefertig und trete um 5:30 Uhr vor die Herberge. Es ist stockdunkel und der Mond geht gerade in einem faszinierenden Naturspektakel am Horizont unter. Leider machen mir meine Geldsorgen die Freude an diesem Schauspiel zunichte. Über Nacht sind aus den 60 Cent keine 120 oder gar mehr geworden.

In der Finsternis begebe ich mich also auf den Weg und scheinbar bin ich der einzige. Weit und breit sind keine Pilger zu sehen und ich fühle mich plötzlich so allein. Ich habe in der Dunkelheit Mühe, die gelben Pfeile zu erkennen, die den Weg weisen. Ich bin verzweifelt und könnte heulen. Wieder wünsche ich mir nur, nach Hause zu kommen, aber dazu fehlen mir alle Mittel, also laufe ich weiter. Wieder lassen die Schmerzen am Fuß beim Laufen nach und so komme ich relativ gut voran. Nur habe ich schon seit einiger Zeit keinen gelben Pfeil mehr gesehen. Es ist so düster. Was, wenn ich mich jetzt auch noch verlaufen habe!!! Nein, da in der Ferne laufen zwei Gestalten mit Rucksack. Das müssen Pilger sein. Also versuche ich so gut es geht, an denen dran zu bleiben.

Inzwischen ist es hell und auch wenn ich die beiden Pilger vor mir immer wieder zwischendurch verloren habe, fühle ich mich jetzt wieder etwas sicherer auf dem Weg. Auf einmal sehe ich sie direkt vor mir auf einem Steinhaufen sitzen. Sie machen Pause und es eröffnet sich mir, dass sie Vater und Sohn sind. Ich brauche jetzt einfach irgendwelche menschliche Nähe und frage, ob ich mich zu ihnen setzen kann, wogegen sie nichts haben. Es sind Spanier und daher können wir nicht viel reden. Ich will auch gar nicht reden. Alles was ich zu sagen hätte, würde furchtbar wehleidig und selbstbemitleidend klingen. Also sitzen wir eine Weile beieinander. Neben uns verläuft eine Art Autobahn, die aber Sonntags um diese Zeit kaum befahren ist. Nach kurzer Zeit verabschieden sich Vater und Sohn freundlich von mir und gehen weiter. Es tat gut, bei ihnen zu sitzen und hat mir wieder Zuversicht gegeben, das Ziel Estella anzusteuern. Nach einer Weile begebe ich mich auch wieder auf den Weg. Die Landschaft ist auch trotz der Autobahn ganz angenehm. Ich komme an eine Kreuzung. Links geht es in den kleinen Ort Maneru auf dem Jakobsweg weiter. Eine Art Abfahrt von der Autobahn führt in den Ort. Der Weg ist nicht ganz eindeutig und ich schaue mich noch etwas verunsichert um. Da höre ich plötzlich meinen Namen: "Dirk!" Ich denke, ich habe mich verhört und schaue weiter, wo der Pfeil ist. Da höre ich es wieder: "Dirk!". Ich drehe mich um und sehe von hinten ein vertrautes Gesicht auf mich zu kommen. Es ist Roy, mein irischer Mitpilger, der auch schon auf den Beinen ist. Wir sprechen nur kurz miteinander. Er sagt mir, dass er seine Füße schonen will und deshalb auf der Autobahn läuft. Er hat schlimme Blasen an den Füßen. Dann fragt er, ob ich ihn begleiten möchte. Für einen kurzen Moment überlege ich. Die Gemeinschaft mit einem vertrauten Mitpilger wäre mir jetzt sehr wichtig. Andererseits sollte ich in den kleinen Ort gehen und schauen, ob dort vielleicht ein Geldautomat ist, der mir Geld gibt, obwohl mein Wanderführer eine solche zivilisatorische Leistung in Maneru nicht vorsieht. Hinzu kommt, dass ich befürchte, den Weg zu verlieren. Ich schaue zu Roy und beschließe, ihm von meiner Situation zu erzählen. Ich sage ihm, dass ich unbedingt in den Ort gehen muss um einen Geldautomaten zu finden, weil ich nur noch 60 Cent in der Tasche habe und daher nicht mit ihm laufen kann. Daraufhin zögert Roy nicht einen Moment, greift in seine Tasche und kramt einen Zwanzig Euro Schein hervor. Er reicht ihn mir und sagt: "Here, take this. If we see each other again, you can pay me back. If we don't, it'll be alright." (Hier, nimm das. Wenn wir uns wiedersehen, kannst Du es mir ja zurückzahlen, falls nicht, ist es auch in Ordnung.) Ich lehne erst ab, aber Roy besteht darauf und so nehme ich sein Geld. Er lächelt, wünscht mir alles Gute und läuft weiter auf der Straße. Ich gehe einen abschüssigen Weg hinab in den Ort und erkenne jetzt erst, was gerade passiert ist. Jemand mir völlig fremdes, jemand, dessen Nachnamen ich nicht einmal kenne und den ich erst ein paar Tage kenne und nur sporadisch gesprochen habe, hat mir völlig selbstlos zwanzig Euro überlassen ohne eine Garantie, es wiederzubekommen. Vielmehr noch, dieser Mensch hat dabei nicht gezögert und mir mit dieser Geste auf einmal die Sicherheit gegeben, in den nächsten zwei bis drei Tagen auf dem Camino zu überleben. Bis dahin könnte es eine Lösung des Problems geben. Als mir die Tragweite dieses Momentes bewusst wird, fließen mir dicke Tränen über's Gesicht und in dem Moment ist mir völlig egal, ob ich gerade durch einen spanischen Ort laufe. Ich bin so gerührt und überwältigt und ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit überkommt mich. Plötzlich führte dieser Jakobsweg mitten durch mein Herz und zeigte mir eine dieser Situationen, von denen man vielleicht gelesen hatte, die ich aber nie für mich selbst erwartet hätte.

Ich laufe also irgendwie weiter und beruhige mich wieder. Der Weg macht aber auf einmal wieder mehr Spaß; die Schmerzen an den Füßen waren ohnehin eben vergessen. An einer Hauswand lacht mich plötzlich eine Errungenschaft der Technik an, die man im Spanischen mit "Telebanco" bezeichnet und die nichts anderes, als ein Geldautomat ist. Ich versuche mein Glück und als dieses Maschinchen plötzlich lustig bunt bedrucktes Papier ausspuckt, ist mein Tag endgültig gerettet und alle Not überwunden.
Nach einiger Zeit habe ich mich wieder gefangen, fühle mich aber auf einmal so leicht und froh, dass ich mich wieder auf den Weg und die Umgebung konzentrieren kann, dass gleich alles viel besser geht. Landschaftlich geht es durch Felder und Weinberge in schöner Abwechslung, aber es wird auch wieder ordentlich warm auf dem Weg. Gegen Mittag komme ich durch Villatuerta und an einer weiteren Einsiedelei vorbei. Mir scheint es jetzt nicht mehr weit bis nach Estella zu sein, aber irgendwie zieht sich der Weg jetzt sehr lang hin. Endlich komme ich in brütender Hitze und nach all der seelischen und körperlichen Anstrengung an und bekomme einen Platz in der Herberge. Leider ist die nicht sonderlich schön und riecht irgendwie penetrant nach Desinfektionsmittel, aber das ist mir ziemlich egal. Ich ruhe mich aus, esse etwas und lerne dabei ein nettes älteres Ehepaar aus Frankreich kennen sowie zwei nette junge Österreicherinnen, die mir sogar was zu Essen anbieten. Aber ich bin leider schon satt und durch die abendliche Abkühlung schaue ich mir dann doch noch die Stadt Estella an. Meine Füße tun noch immer weh, aber ich habe das Gefühl, dass es etwas besser wird. Am Abend treffe ich dann sogar die beiden Berchtesgadener Sabine und Julian in der Herberge wieder und wir unterhalten uns und lernen uns so wieder ein Stückchen besser kennen. Leider kann ich mit dem bayerischen Dialekt immer noch nichts anfangen, merke aber, dass die beiden sich große
Mühe geben, ordentlich Deutsch zu sprechen. Sabine finde ich aufgrund ihrer lockeren Leichtigkeit manchmal richtig lustig.


Später kommen noch einige Radfahrer in der Herberge an, die nun wirklich krachend voll ist. Ich gehe beizeiten zu Bett und versuche trotz der noch umherscheuchenden Spätankömmlinge zu schlafen. Was für ein Tag! Voller Leid und voller Freud!