Mittwoch, 20. August 2008

Etappe 35: Von Pedrouzo nach Santiago de Compostela

Es ist Montag, der 27. August 2007.

Als ich morgens aufwache, kann ich es kaum noch erwarten. Ich merke die Anziehungskraft Santiagos ganz deutlich und meine Füße wollen loslaufen. Ich packe meine Sachen und begebe mich in der Dunkelheit auf den Weg, der mich zunächst auf der Straße zurück und dann in den Wald führt. Hier ist es nun noch finsterer und die Batterien meiner Taschenlampe meinen offensichtlich, wir hätten das Ziel schon erreicht und versagen ihren Dienst. Ich kann den Weg nicht mehr ausleuchten und stehe mitten im finsteren Wald. Von hinten nähern sich einige Pilger mit Lampen, so dass ich kurzzeitig wieder Orientierung finden kann. Solange der Schein ihrer Lampen mich begleitet gehe ich weiter, doch als sie sich zu weit entfernt haben, wird es wieder dunkel um mich herum. Ich irre also vorsichtig weiter. Plötzlich sehe ich an den Seiten winzige Lichtlein leuchten und erkenne, dass es Glühwürmchen sind, die sich mächtig anstrengen und mir somit zwar nicht den Weg ausleuchten aber wieder etwas Hoffnung spenden. Im Vertrauen folge ich dem Pfad, den ich für den Weg halte und bald schon überholen mich wieder Pilger mit diesen hell leuchtenden Grubenlampen. Ich erinnere mich, dass ich mich früher oft über diese Dinger aufgeregt habe doch nun bin ich froh, dass es sie gibt, denn sie erhellen beinahe den ganzen Wald und spenden mir damit ebenfalls ausreichend Licht. Zudem versuche ich mit dem schnellen Schritt dieses erleuchteten Pilgers mitzuhalten um sozusagen von seiner Lampe zu profitieren, was mich zugegebenermaßen zu einem Schmarotzer macht.
Etwas später verlassen wir den Wald und damit bin ich nicht mehr auf Fremdlicht angewiesen. In der freien Landschaft ist es schon heller, da die Morgendämmerung einsetzt. Nun geht es noch durch einige kleine Dörfchen, bergauf und bergab durch einige kleinere Waldgebiete. Danach biege ich einmal auf dem Weg links ab, nachdem ich einige Zeit nach dem gelben Pfeil suchen musste. Es geht weiter bergan und während eben noch vereinzelt andere Pilger zu sehen waren, scheine ich nun ganz allein unterwegs zu sein. Ich laufe nun durch ein Gebiet, dass teilweise abgeholzt wurde und nun scheinbar brach liegt. Wenig später wird mir klar, wo ich mich befinde, denn unweit von mir höre ich, mit unglaublichem Krach ein Flugzeug starten. Ich befinde mich knapp neben der Start- und Landebahn des Flughafens von Santiago. Dies gehört wahrlich nicht zu den Höhepunkten des Jakobsweges und offensichtlich gibt es einen Alternativweg, den die anderen Pilger genommen haben. Glücklicherweise ist es noch recht früh und der Flughafen eher klein, so dass nicht zu viele Flugzeuge starten und landen, während ich vorbeilaufe. Bald schon stoße ich wieder auf den anderen Weg an der Straße und treffe auf ein erstes Willkommensschild am Rand von Santiago.
Noch bin ich aber nur im Großeinzugsgebiet und noch weit von der Altstadt entfernt. Der Weg führt nun um die Außenbereiche des Flughafens herum durch kleinere Vororte hin zum Monte do Gozo, dem letzten Hügel vor Santiago de Compostela. Der Weg nach oben führt vorbei an einer Massenherberge von 500 bis 800 Betten, vorbei an den Antennen des galizischen Regionalfunks zu einem überdimensionierten Monument in Erinnerung an die Papstbesuche hier. Ich gönne mir hier auf dem Berg noch ein kleines Frühstück und danach geht es endgültig den Berg hinab in die Stadt.
Kurz darauf erreiche ich das Ortseingangsschild von Santiago und nun geht es durch die Randbezirke in Richtung Innenstadt. Während ich nun an den Häusern und dem Verkehr vorbeiziehe spüre ich kein erhebendes Gefühl. Es ist alles recht turbulent und kommt doch irgendwie so plötzlich. Die vielen Eindrücke, die ich in gesteigerter Aufmerksamkeit aufnehme, verwirren mich fast. Noch bevor die Altstadt überhaupt zu sehen ist, werde ich von mehreren Leuten angesprochen, die mir Privatunterkünfte anbieten und mir Telefonnummern geben, wo ich mich melden soll. Das verwirrt mich nur noch mehr, doch es setzt sich bis in die Altstadt fort. Bei all diesem Durcheinander erlebe ich aber nun auch das Gefühl der Erleichterung, denn offensichtlich brauche ich mir hier keine Gedanken um eine Übernachtungsmöglichkeit zu machen. Als ich die Altstadt betrete und die Gassen enger und die Häuser älter und schöner werden, spricht mich noch einmal eine ältere Frau an und preist ihre Zimmer an. Als Belohnung für das Erreichen des Zieles gönne ich mir nun diese Privatunterkunft und gehe mit ihr mit. Sie führt mich durch viele kleine Gässchen, hier links, da wieder rechts, zwischendurch ein kleiner Schwatz, dann begrüßt sie wieder einen Bekannten, dann wieder rechts und links. Ich bin vollkommen orientierungslos und folge ihr einfach. Dann haben wir das Ziel erreicht und sie zeigt mir das Zimmer, welches mir gut gefällt und in dem ich nun zwei Nächte bleiben werde. Es ist jetzt circa elf Uhr und damit bleibt mir noch eine knappe Stunde bis zur Pilgermesse in der Kathedrale, die ich gern besuchen möchte. Also dusche ich schnell noch, packe ein paar Sachen aus und mache mich auf den Weg. Anhand des Stadtplans kann ich mich wieder orientieren und stelle fest, dass ich nur wenige hundert Meter von der Kathedrale entfernt wohne.
Während ich nun so durch die Altstadt wandere und um mich herum das Treiben der Menschen und die ankommenden Pilger erlebe, kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Es sind zu viele Eindrücke und mein Gehirn kann es nicht richtig begreifen, dass ich am Ziel bin. Noch erscheint mir Santiago eher ein Zwischenziel zu sein, wie Burgos oder León.

Dann endlich komme ich auf den Praza do Obradoiro, den großen Platz direkt vor der Hauptfassade der Kathedrale. Er ist riesig und darauf tummeln sich viele Menschen, überwiegend Pilger. Ich bin überwältigt und doch auch irgendwie betäubt, als liefe ein Film ab oder als würde ich eine ferne Erinnerung wahrnehmen. Ich kann es einfach nicht fassen, hier zu sein und somit halten sich auch meine Emotionen im Zaum. Als ich die Treppen vor der Fassade nach oben laufe, treffe ich ein paar italienische Mitpilger, die ich vorher schon einige Male sah und wir reichen uns alle erleichtert die Hand. Und mit dieser Geste dringen erstmals einige Gefühle nach außen. Ich freue mich so, dass sie auch mit hier sind und sehe in ihren Augen die gleiche Erleichterung und Zufriedenheit, wie in so vielen Gesichtern ankommender Pilger. Dann laufe ich noch einmal über den Platz und erkenne immer mehr mir bekannte Gesichter. Viele von ihnen habe ich unterwegs zwar getroffen und wir haben uns oft gegrüßt, aber nie wirklich kennengelernt. Hier aber, im Angesicht dieser wunderschönen Kathedrale von Santiago geben wir uns alle die Hand oder umarmen uns. Wir kennen uns nicht, sind uns aber doch so nah und sind alle Teil dieser großen wundervollen Gemeinschaft von Pilgern. Mit jedem Handschlag und jeder Umarmung rückt mir Santiago ein Stückchen näher und ein paar Tränen stehen mir in den Augen. Das Gefühl, was ich jetzt empfinde, hier an diesem Ort kann ich nicht in Worte fassen.



Kurz vor zwölf Uhr gehe ich dann über den Seiteneingang in die Kirche zur Pilgermesse. Die Kathedrale ist riesig und doch mit unzähligen Menschen und Rucksäcken gefüllt, so dass ich die Messe an kleinen Bildschirmen am Rand verfolge, die in regelmäßigen Abständen aufgehängt sind. Alles ist sehr festlich, aber nicht verkrampft feierlich. Der Gottesdienst, die Liturgie und die Ansprachen der Priester haben eine gewisse jugendliche Leichtigkeit – jedenfalls in dem Maße, wie ich es verstehen kann, da alles auf Spanisch ist. Zu Beginn werden kurz die Zahlen der Pilger nach Nationalitäten genannt, die neu in der Stadt angekommen sind. Es folgt die Messzeremonie und abschließend das Schwenken des riesigen Weihrauchfasses durch das Querschiff der Kathedrale, wobei hunderte Kameras und Handys in die Luft gehalten werden und diesem Ritual huldigen. Nach Spendung des Sakraments und dem Segen verlassen die Pilger das Gotteshaus wieder. Dabei entdecke ich Elisabeth und gleich draußen vor der Tür umarmen wir uns und freuen uns gemeinsam über unsere Ankunft. Auch Dorothee stößt bald zu uns und zu guter Letzt treffen wir auch drei der „Fantastischen Vier“, nämlich Heidi, Anka und Lois wieder. Lili werde ich nicht noch einmal sehen.
Von Leichtigkeit und Freude beseelt genießen wir alle den Augenblick und mit Doro und Elisabeth verabrede ich mich für den Nachmittag. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass uns allen die Worte fehlen.



Nachdem ich mich über Mittag ein wenig gestärkt und ausgeruht habe, durchstreife ich die Straßen und Gassen von Santiago. Diese quirlige Studentenstadt hat ein besonderes Flair; alte Tradition trifft hier junge neue Geister. Überdies wirkt sie auch sehr international und offen, eine Weltstadt eben. Während ich so gehe, treffe ich plötzlich Steffen aus Ulm wieder und ich freue mich, nun wieder einen Bekannten des Weges zu sehen und zu wissen, dass er gut angekommen ist. Steffen ist bereits seit gestern hier und wird morgen auch schon wieder nach Hause aufbrechen. Wir unterhalten uns eine Weile, während wir einen Frisör ansteuern, denn Steffen möchte die gewachsene Haarpracht nicht komplett mit zurück nehmen. Auch ich möchte vor allem meinen Pilgerbart loswerden und damit an sich auch eine Tradition wahren. In den vergangenen vier Wochen habe ich mich bewusst nicht rasiert, weil ich mir zum einen das Gewicht des Rasierers sparen wollte und zum anderen habe ich den Bart wachsen lassen um auch eine gewisse Entwicklung des Pilgerweges an mir selbst zu erkennen. Nun aber muss der Bart ab und das stilvoll von einem spanischen Barbier (wenngleich es nicht der Barbier von Sevilla sein kann). Leider bietet der Frisör, der Steffen bedient, diesen Service nicht an und somit verabschieden wir uns wieder. Da nun auch die Zeit knapp wird, weil ich noch andere Pläne habe, verschiebe ich die Operation Bart-ab auf morgen und gehe nun stattdessen zurück zur Kathedrale. Am späten Nachmittag ist das Gotteshaus nicht mehr so überfüllt und nun kann ich auf einer der Kirchenbänke ein wenig innehalten und diesen wunderbaren Kirchenraum auf mich wirken lassen. Es ist eine atemberaubend schöne Kathedrale, die immens groß ist, dabei aber nicht erdrückend wirkt. Vorn im Altarraum steht der strahlende goldene Altar mit der lebensgroßen Heiligenbüste unter einem Baldachin. Da er jetzt nicht angestrahlt wird, schimmert er geheimnisvoll im Halbdunkel und blickt nicht erhaben, sondern fast kameradschaftlich auf die Pilger herab. Es ist geradeso, als wolle die Büste des Apostels sagen: „Schön, dass Du es geschafft hast und nun hier bist.“ Je länger ich hier sitze und die Menschen betrachte, desto näher wächst mir diese Kathedrale ans Herz. Es ist so eine liebevolle und unverkrampfte Lebendigkeit hier, keine überzogene Frömmigkeit, die mehr repräsentativ als aufrichtig ist. Wahrscheinlich ist dies so, weil hier die Frömmigkeit der Menschen unmittelbar mit ihrem Schicksal des Pilgerweges verbunden ist und damit keine reine Pflichterfüllung darstellt. Ich laufe nun ein wenig durch das Kircheninnere, vor in Richtung des Altarraumes, der magisch anziehend ist.



Auch ich sollte traditionell noch einige Rituale durchführen, um meine Pilgerreise zu beenden. Diese nehme ich nun in Angriff und stelle mich in die Schlange, die zur Goldbüste des Jakobus unter den Baldachin führt. Der Brauch will es, dass die Pilger das goldene Apostelabbild umarmen, küssen und sich so für eine beschützte Reise bedanken. Als ich nach oben komme und nun über die Schultern des glänzenden Jakobus in die Kathedrale schaue, falle ich ihm in Dankbarkeit um den Hals und küsse kurz sein goldgeschmiedetes Gewand. Ich habe schließlich allen Grund, für eine beschützte Reise dankbar zu sein. Danach begebe ich mich wieder nach unten und besuche auch das Grab des Apostels, welches sich in der Krypta unterhalb des Altars befindet. Hier ist es mehr Fließband, weil so viele anstehen und so werfe ich nur einen kurzen Blick auf den silbernen Schrein, in dem sich die Überreste des Heiligen Jakobus befinden sollen. Beides sind für mich schöne Momente, wenngleich sie etwas touristisch vereinnahmt sind, aber mit jedem dieser Rituale wird mir auch bewusster, dass mein Pilgerweg nun wirklich ein Ende gefunden hat und so langsam dringt die Erkenntnis zu mir durch, dass Santiago eben nicht nur eine Zwischenstation ist, sondern das Ende meines Jakobsweges.
Da noch etwas Zeit ist bis zum Treffen mit Elisabeth und Dorothee, besuche ich auch gleich noch das Pilgerbüro neben der Kathedrale um meine Compostela abzuholen. Jeder, der mindestens die letzten hundert Kilometer bis Santiago zu Fuß gegangen ist und dies mittels seines Pilgerausweises belegen kann, bekommt sie und auch wenn ich gar 800 km gelaufen bin und somit meine Compostela redlich verdient habe, bin ich diesen Jakobsweg letztlich nicht wegen dieser Urkunde gegangen. Dennoch empfinde ich auch Stolz, als ich sie dann endlich in den Händen halte. Da sie in Latein ausgestellt wird, gab es jedoch einige Komplikationen mit meinem Vornamen, der traditionell ebenfalls in latinisierter Form eingetragen wird. Da Dirk jedoch ein germanischer Name neuerer Zeit ist, fand sich dafür keine entsprechende lateinische Form. Das sorgte bei den netten Damen des Pilgerbüros für einige Unruhe und alle Namenslisten konnten nicht helfen. Mir war aber bekannt, dass Dirk eine Kurzform für Dietrich ist und für Dietrich fand sich eine Entsprechung in Latein: Theodericus. Und somit heiße ich auf meiner Compostela Theodericus. Eine heitere Anekdote.
Am Abend genießen Dorothee, Elisabeth und ich das gemeinsame Pilgermenü in Santiagos Gassen. Abends wird diese Stadt noch schöner, da sich alles ein wenig beruhigt und an mehreren Ecken Straßenmusiker angenehme Töne spielen. So setzen auch wir uns auf die Stufen unterhalb der angestrahlten Kathedrale und lauschen den wunderschönen Klängen, die uns diese Stadt einmal mehr ans Herz wachsen lassen. Wenn es Momente im Leben gibt, in denen man die Zeit anhalten wollte, so wäre dies einer davon. Gegen 22 Uhr wollen wir zwar nach Hause gehen, laufen aber dann doch noch einmal auf den großen Platz vor der Westfassade der Kathedrale. Hier sitzen noch so viele Pilger auf den warmen Steinen des Platzes, feiern ein wenig, treffen alte Bekannte, sind still in sich gekehrt und lassen diese Atmosphäre einfach auf sich einwirken. Wir tun es ihnen gleich und so streifen wieder Gedanken an vorangegangene Etappen durch den Kopf und eine unbeschreibliche Dankbarkeit, Zufriedenheit und Leichtigkeit erfassen mich. Der Vollmond steigt über der Kathedrale auf und am liebsten würden wir noch stundenlang hier bleiben wollen. Da Dorothee und Elisabeth morgen aber noch bis nach Finisterre am Atlantik fahren wollen, heisst es wieder einmal Abschied nehmen und diesmal leider vorerst für immer. Und damit holt einen der Jakobsweg mit seinen Begegnungen und Abschieden wieder ein Stückchen ein, oder ist es gar schon der Alltag des Lebens, der hier, an diesem himmlischen Ort so fern zu sein scheint? Damit endet auch für mich ein langer Tag mit unendlich vielen Eindrücken.