Samstag, 2. August 2008

Etappe 17: Von Itero de la Vega nach Carrion de los Condes

Es ist Donnerstag der 9. August 2007.

Nach einer unruhigen Nacht breche ich als einer der ersten morgens um 5:30 Uhr wieder auf. In der Nacht hat über mir ein frankophoner älterer Kanadier geschlafen, dem offenbar das gestrige Pilgermenü nicht gut bekommen ist. Immer wieder stand er nachts auf, rannte aus unserem Zimmer nach unten zur Toilette und musste sich übergeben. Mir schien, er habe es ein oder zwei Mal auch nicht ganz bis dahin geschafft und irgendwann wurde davon wohl auch die Herbergsmutter wach. Ich konnte daher nicht wirklich schlafen, denn einerseits herrschte dadurch beständige Unruhe und andererseits hatte ich befürchtet, er könnte es einmal vielleicht nicht bis aus dem Zimmer oder aus dem Bett schaffen. Dem war aber nicht so; dennoch es schien ihm furchtbar schlecht zu gehen, denn immer wieder stöhnte er wenn eine neue Welle der Übelkeit kam. Irgendwann bin ich dann aufgestanden und habe ihm mit meinen wenigen Fetzen Französisch angeboten, in meinem Bett zu schlafen, damit er nicht ständig hoch und runter klettern müsse, aber er hat dankend abgelehnt. Als ich dann morgens aufbreche, bin ich irgendwie froh, wieder auf dem Weg zu sein.

In völliger Dunkelheit verlasse ich Itero de la Vega und sobald ich den kleinen Ort verlassen habe und kein Straßenlicht den Weg mehr erhellt, ist wieder dieses seltsame Gefühl mit mir unterwegs: ein Gefühl, das irgendwo zwischen einem unwillkommenen Verlassensein auf weiter Flur und der dadurch resultierenden innigen Verbundenheit mit dem Pilgerweg, Gott und mit mir selbst liegt. Inmitten von riesigen Maisfeldern laufe ich auf einem langgestreckten Feldweg in Richtung Boadillo del Camino. Ich bin doch etwas vorsichtig, denn in der Dunkelheit sehe ich nirgendwo gelbe Pfeile und immer wieder kreuzen andere Feldwege, die in mir Unsicherheit auslösen. Meine Taschenlampe macht leider auch nicht so viel Licht, um aufgemalte Pfeile auf Steinen oder Ähnliches zu erkennen. Allerdings wird diese leichte Beklommenheit enorm gemildert durch den grandiosen Blick, den ich in den Sternenhimmel habe. Über mir leuchten Tausende von Sternen und die Milchstraße ist sehr gut zu erkennen. Mir scheint es fast, als weise sie mir den Weg nach Santiago zum Sternenfeld. Ein solcher Anblick regt zwangsläufig zum Nachdenken an; hier unten laufe ich kleiner Pilger und über mir zündet der Himmel unzählige Lichtlein an und spendet dadurch Hoffnung und Zuversicht. In dieser Gewissheit fühle ich mich dann auch nicht mehr so allein.

Nach einigen Stunden erreiche ich in der einsetzenden Morgendämmerung Boadillo del Camino. Der Ort ist völlig verschlafen und ich mache an einem Brunnen eine kleine Pause. Plötzlich kommen zwei Hunde angelaufen und kommen direkt zu mir. Für einen Moment habe ich doch ein wenig Angst, aber die beiden schauen mich nur kurz an und ziehen dann weiter. Ich tue es ihnen gleich (erst nachdem sie ein wenig Abstand gewonnen haben, gebe ich zu) und durchquere den Ort, bevor es dann wieder auf einem steinigen Weg weitergeht. Wenig später treffe ich auf den Canal de Castilla, einen Kanal, der so ruhig und andächtig daliegt, dass er nahezu meditative Wirkung hat. Dankenswerterweise geht der Weg nun bis Fromista immer an diesem Kanal entlang und die Nähe des Wasser strahlt eine angenehme Ruhe aus. Fast fühle ich mich sogar ein wenig wie in Holland, wo ich ähnliche Landschaften kenne. Die Sonne strahlt über dem stillen Gewässer und alles wirkt wieder ganz perfekt.


Nachdem ich den Kanal kurz vor Fromista wieder verlassen muss, kehre ich in der Stadt zum Frühstück ein. Sonst halte ich mich nicht länger in der Stadt auf und ziehe weiter. Leider ist der nun folgende Abschnitt bis Población de Campos nicht schön, denn der Weg zieht sich steinig gleich neben der Straße her und die Sonne beginnt nun im herannahenden Mittag immer heißer zu werden. In Población aber bietet mein Wanderführer die Möglichkeit an, einen Alternativweg zu wählen, der nicht an der Straße entlang führt und so entscheide ich mich für diesen. Viel angenehmer geht es nun wieder durch Felder, entlang von plätschernden Bewässerungsrinnen, die die Pflanzen mit dem nötigen Wasser versorgen. Es sind hier nur sehr wenige Pilger unterwegs aber in der Ferne erkenne ich, wie sich ein kleiner Transporter auf dem Weg langsam nähert. Als mich der Wagen erreicht, grüße ich den älteren Herrn hinterm Steuer freundlich. Er stoppt den Wagen, reicht mir einen Lutscher und nimmt meine Hand. Er drückt sie fest und schaut mir dabei tief in die Augen und sagt: „Buen Camino.“ Ich bedanke mich und langsam fährt er weiter. Dieses Erlebnis beeindruckt mich sehr. Es drückte soviel Würde und Respekt aus, wie ich es bisher auf dem Weg noch nicht erfahren habe. Es ist mir fast unangenehm und peinlich, wie dieser Mann mir, einem nicht ganz frisch aussehenden jungen Pilger Achtung entgegen gebracht hat. Eine wirklich denkwürdige Erinnerung.

Als ich in Villovieco wieder auf den ursprünglichen Weg zurückkomme, bemerke ich gerade als ich den Eingang eines Hauses passiere, wie sich ein dort stehender Mann ebenfalls fast verbeugt und mir einen guten Weg wünscht. Auch davon bin ich beeindruckt und führe diese netten Gesten darauf zurück, dass hier der Jakobsweg und die ihn beschreitenden Pilger wohl in der Tat noch die hohe Wertschätzung und Ehre genießen, von der ich im Vorfeld schon vereinzelt gehört hatte.

Von nun an aber wird es ganz hart. In der prallen Mittagssonne stehen mir noch 10 km bis Carrion de los Condes bevor und der Weg führt nun nahezu endlos geradeaus an der Straße entlang. Hinzu kommt, dass sich Weg und Straße zum Teil in einem Kanal befinden, der links und recht durch aufgeschüttete Erde gebildet hat, so dass die Hitze hier wirklich unerträglich ist. Auch sind die Steine des Weges gleißend weiß und die Tatsache, dass die Stadt – das ersehnte Ziel – zwar irgendwann in der Ferne sichtbar wird, aber nicht wirklich näher kommen will, raubt mir die Nerven. Völlig erschöpft und entkräftet komme ich schließlich in der Nachmittagshitze an. Nach diesen 34 km der heutigen Etappe habe ich meine Grenzen deutlich erkannt. Und dabei habe ich auch einiges riskiert, denn an meinen Füßen gibt es neue Blasen, die ich behandeln muss. Ich komme in einem Kloster des Klarissenordens unter, was wieder sehr schön ist, denn es herrscht himmlische Ruhe und die Betten und Duschen sind sehr gut.

Obwohl ich völlig fertig bin und eigentlich nie wieder aus meinem Bett aufstehen möchte, gehe ich am späten Nachmittag doch in die Stadt und kaufe ein wenig ein. In einem Café ruhe ich mich ein wenig aus und treffe dabei auf drei junge Deutsche, die mich zu sich an den Tisch bitten. Die drei sind alle ganz nett, wenngleich ich im Gespräch mit ihnen bemerke, dass es eben auch profanere Motive gibt, auf dem Jakobsweg zu wandern – eben aus sportlichem Ehrgeiz und um hübsche junge Damen kennenzulernen bzw. um nach getaner Wanderarbeit ordentlich einen hinter die Binde zu kippen. Nichts für mich, soviel steht fest. Und somit bricht auch bald für mich der Abend an und ich begebe mich zur Ruhe.