Montag, 25. August 2008

Bis ans Ende der Welt 4: Von Corcubión nach Finisterre

Es ist Samstag, der 1. September 2007.

Obwohl die Herberge hier schön ist und nur wenige Leute da sind, habe ich wieder eine unruhige Nacht. Die Beine und Füße schmerzen immer noch, vor allem wenn ich liege und leider ratzen die beiden Portugiesen neben mir ziemlich laut. Das aber stört mich nun, am Ende meiner Reise, nicht mehr so sehr. Vielleicht bin ich durch die verschiedenen Erfahrungen auf diesem Gebiet nun mittlerweile abgehärtet, vielleicht ist es aber auch die Aussicht, dass wenigstens dieser negative Aspekt des Jakobswegs bald ein Ende haben wird.
Gegen 8 Uhr breche ich auf, während alle anderen Pilger in der Herberge noch schlafen. Es ist Wochenende und damit sind auch die Straßen noch sehr still und unbefahren. Entlang dieser setze ich nun meinen Weg nach Finisterre fort. Es geht weiter durch die bewachsenen Hügel der Küste, immer nur soweit vom Meer entfernt, dass man es auch dann noch spürt, wenn man es nicht mehr sehen kann. Das Wetter ist wieder sehr schön und der Weg ist leicht.
Kurz nachdem ich dann doch noch einmal wieder etwas weiter ins Landesinnere geleitet werde, kehre ich zur Küste zurück und mir eröffnet sich mit einem Mal ein grandioser Blick auf die Bucht von Langosteira, Finisterre und das Kap mit dem Leuchtturm. Mein Herz hüpft vor Freude und wäre ich ein Maler, würde ich wahrscheinlich gleich hier meine Staffelei aufbauen und zu malen beginnen. Doch ich bin Wanderer und gehe nun weiter. In einem recht steilen Abhang fällt das Land ins Meer und mitunter zeigen sich unten kleine idyllische Buchten.


Bald erreiche ich den Strand und die Strandpromenade von Langosteira. Nun geht es ein gutes Stück unmittelbar am Strand entlang. Links von mir säuselt das Meer verschlafene Wellen an den hellen Sandstrand und rechts von mir sind gemütliche kleine Ferienhäuschen aufgereiht. Einige Jogger kommen mir entgegen und viele grüßen freundlich.
Nachdem ich den Strand verlassen habe, laufe ich noch ein kurzes Stück entlang der Straße und erreiche nun die Stadt Finisterre. So langsam wacht man hier auf und ich versuche zunächst die Herberge zu finden, um mich um eine Unterkunft zu kümmern. Dabei treffe ich auf Edgar, den Schweizer. Er lädt mich auf einen Kaffee ein und wir unterhalten uns ein wenig. Er sagt mir, dass es hier günstige Privatunterkünfte gebe und erklärt mir auch, wo sein kleines Hotel ist. Morgen will er nach Muxía weiterlaufen. Ich hatte zwar ursprünglich auch diesen Plan gehabt, aber nachdem ich nun am Meer bin und das Ende der Welt geradezu vor der Tür liegt, beschließe ich, mir hier zwei schöne entspannte Tage zu machen, Strand und Meer zu genießen und meine Wanderschaft endgültig hier zu beenden.
Als wir fertig sind, laufe ich wieder durch die Innenstadt auf der Suche nach Edgars Hotel. Da werde ich auf einmal von einer älteren Dame aus ihrer Wohnung auf Spanisch angesprochen. Zunächst verstehe ich nicht ganz, was sie will. Sie bittet mich herein, erzählt und erzählt und mir wird irgendwann klar, dass sie mir eine günstige und schöne private Unterkunft anbieten will für nur 12 Euro pro Nacht. Nun, ich bin interessiert und sie telefoniert kurz. Danach warten wir und es ist erstaunlich, wie gut man sich mit nur wenigen spanischen Worten unterhalten kann. Dann erscheint eine jüngere Frau, die offenbar die Tochter oder Schwiegertochter der Dame ist. Sie führt mich durch Finisterre und ich fühle mich ein wenig an Santiago erinnert, als mich die ältere Frau ebenfalls durch Straßen und Gassen führte um mir ihre Zimmer zu zeigen. Endlich erreichen wir ihr Haus, eine prächtige Villa etwas außerhalb des Stadtrandes. Sie führt mich in die untere Etage, zeigt mir eine ganz neue und modern ausgestattete Küche mit Mikrowelle, Toaster, Waschmaschine, Herd und TV-Ecke, zeigt mir dann ein wunderschön gefliesstes Bad mit Toilette und Badewanne und geleitete mich dann in ein geräumiges Dreibettzimmer. Zunächst verstehe ich nicht so recht, was das soll. Ich vermute, ich müsste nun mit zwei anderen Leuten in dem Zimmer schlafen, aber sie bestätigt nochmals, dass ich dieses Zimmer für 12 Euro die Nacht haben könne und da die gesamte Etage noch unbewohnt sei und wohl auch bleibe, stünde mir alles frei zur Verfügung. Ich kann mein Glück gar nicht fassen, zahle ihr aber bereitwillig die 24 Euro für zwei Nächte und bleibe nun in diesem wahrlich tollen Palast. Es ist die Krönung einer langen Reise und in dieser glücklichen Fügung sehe ich eine weitere Bestätigung dafür, meine Reise hier in Finisterre zu beeenden.



Am Nachmittag gehe ich ein wenig einkaufen und schaue mir Finisterre an. Es ist eine ganz gesellige kleine Fischerstadt, die trotz ihrer prominenten Position am Ende des Jakobsweges überhaupt nicht aufdringlich oder quirlig aber eben auch nicht langweilig und öde wirkt. Ich fühle mich schnell sehr wohl hier. Auch die hiesige Herberge suche ich auf, denn nach der Urkunde aus Santiago, kann man sich hier auch eine Urkunde – die Fisterrana – ausstellen lassen, die bestätigt, dass man bis zum Ende der Welt gelaufen ist. Diese Ehrung hole ich mir dann doch gerne ab.
Während ich dann am Strand entlangspaziere genieße ich es einerseits, einmal nur in Badehose und Schlappen zu laufen und keinen 11 Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken zu tragen. Andererseits aber kommen mir nun auch Gedanken an den Jakobsweg und an die Zeit, die nun wieder anbricht. Ich überlege mir, wie lange ich wohl von diesen Erfahrungen zehren werde, wie lange sie in meinem Alltag präsent sein werden, wie sich mein Leben positiv durch diesen Jakobsweg verändern kann. Ich habe mich nun nach sechs Wochen so an diese Lebenssituation gewöhnt, dass es mir fast irreal erscheint, morgens ins Büro zu gehen, den ganzen Tag über Büchern zu sitzen und nicht durch die Landschaft zu streifen. Ich habe hier so viel über mich, über die Menschen und die Wahrnehmung der wichtigen Dinge des Lebens gelernt, dass ich fast schon Angst bekomme, diese Erkenntnis könnte mit Ende des Jakobsweges verblassen, wie ein altes Foto, das zu lange der Sonne ausgesetzt ist. Sicher werden viele Erinnerungen bleiben, aber was ist mit den praktischen Dingen, das Miteinander mit anderen Menschen, das gegenseitige Helfen und Hilfe annehmen und die Nähe zu den kleinen Wundern der Natur, die in ihrer Einfachheit so viel größer sind als manche technische Errungenschaft unserer Gesellschaft. Und was wird aus meiner Nähe zu Gott? Während ich also so am Strand laufe und darüber nachdenke, wird mir die Stelle der Bibel auf interessante Weise deutlich, in der es um das Sammeln von Schätzen im Himmel statt Schätzen auf Erden geht. Dieser Pilgerweg hält viele himmlische Schätze bereit und lässt uns so manchen irdischen Schatz vergessen. Diese Erkenntnis tröstet ein wenig über die Wehmut hinweg, die nun auch in mir aufkommt.
Nachdem ich mir zum Abend mein eigenes dreigängiges Pilgermenü gezaubert habe (und das Kochen in dieser Küche hat auch wieder richtigen Spaß gemacht), begebe ich mich auf den Weg zum endgültigen Schlusspunkt des Jakobsweges: zum Leuchtturm am Kap Finisterre. Bis dorthin läuft man entlang der Straße eine gute Stunde und auf dem Weg treffe ich sogar noch zwei Berlinerinnen, die ich einige Tage vorher kurz vor Santiago in einer Herberge getroffen hatte. Auch sie sind von Finisterre ganz begeistert und wollen nun, ebenso wie ich, auch den Sonnenuntergang am Ende der Welt erleben.
Als wir den Leuchtturm erreichen sind bereits viele Leute da und nun kommt doch eher ein touristisches Gefühl auf. Wir erreichen den Kilometerstein mit der gelben Jakobsmuschel darauf und das Bild ist erleichternd und gewöhnungsbedürftig zugleich, denn es sagt uns nun 0,0 km voraus. Das Ende des Pilgerweges ist erreicht, von hier aus geht es nicht mehr weiter. Was bleibt, ist nur der wunderbare Blick auf den endlosen Ozean, der in der Abendsonne schimmert. Die Küste fällt steil hinab ins Meer und ich fühle mich ob dieses majestätischen Anblickes ganz winzig. Das Ende der Welt! Während ich mich hinsetze und der Sonne zuschaue, wie sie am Horizont versinkt denke ich wieder einmal zurück. Dieser Jakobsweg war in der Tat ein großer Segen und auch wenn der Gedanke, ihn tatsächlich zu beschreiten erst in einem langen Prozess realisiert wurde, so weiß ich, dass dies eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens und die wahrscheinlich schönste Erfahrung meines bisherigen Lebens war. Zwar ist dieser Weg nun hier zu Ende, aber ich weiß auch, dass mit jedem Ende ein neuer Anfang verbunden ist.


Die Sonne senkt sich nun langsam in einem kleinen goldenen Wolkenschleier über dem Meer und taucht bald in die Tiefen des Ozeans ein. Alle Menschen hier scheint dieser Moment zu bewegen und auch mich. Es ist ein ganz besonderer Ort, dieses Ende der Welt.


Im Licht des Leuchtturmes wandere ich schließlich bei einbrechender Dunkelheit wieder zurück in die Stadt und gehe zufrieden und dankbar zu Bett.