Montag, 8. Oktober 2007

Etappe 1: St-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles

Es ist Dienstag, der 24. Juli 2007. Es ist 7 Uhr. Ich habe bereits ein kleines Frühstück bei Madame Janine hinter mir, habe meine Sachen gepackt, die Wasserflasche an der Quelle vor der Herberge aufgefüllt und stehe nun vor dem Haus. Es regnet leicht, außerdem ist es recht kühl, also ziehe ich mir Fleece-Pullover und Regenjacke an. Mein Jakobsweg beginnt. Gerade als ich unter dem Port d'Espagne (Bild links) hindurch laufe, läutet die Glocke über mir sieben Mal. Es kommt mir fast wie der Startschuss vor. Mit mir sind noch einige andere Pilger unterwegs, die alle irgendwie unsicher aus den verschiedensten Ecken der Altstadt hervorkriechen und mit auf der Strasse zum Stadtrand laufen. Um mich nicht zu verlaufen, klebe ich an den Wegbeschreibungen meines Wanderführers und achte auf eventuelle gelbe Pfeile oder aufgemalte Jakobsmuscheln, die den Wegverlauf anzeigen. Ich habe mich für die schwierigere aber wohl schönere Route Napoléon entschieden. Die andere Strecke wäre zwar etwas kürzer und weniger steil, führt aber anscheinend oft an der Strasse entlang und dazu habe ich keine Lust. Außerdem denke ich mir, wenn Jakobsweg, dann richtig. Ich überhole plötzlich die beiden Französinnen aus dem Herbergszimmer und wir grüßen uns freundlich. Die beiden sehen in ihren roten Regenponchos lustig aus, aber ich mit meiner blauen Regenjacke und dem roten Basecap wahrscheinlich auch nicht viel besser. Am Ortsausgang von St-Jean geht es schon recht steil bergan und es regnet noch immer. Dann plötzlich komme ich an eine Weggabelung, an der ein älterer Mann etwas ratlos steht. Ich besinne mich, dass sich Pilger gegenseitig helfen und bleibe kurz stehen. Es stellt sich heraus, dass er Deutscher ist und nicht genau weiss, welche Route er nehmen soll. Ich sage ihm, dass die Route Napoléon geradeaus führt und obwohl er schon etwas niedergeschlagen aussieht, entscheidet er sich auch für diese Strecke. Wir laufen aber nicht gemeinsam, denn ich bin etwas schneller unterwegs. Vor mir laufen auch Pilger in etwas Entfernung und hinter mir tauchen wieder die beiden Französinnen auf. Wir kommen wieder ins Gespräch und ich versuche ihnen klarzumachen, dass dies die schwerere Route ist. Sie sind erst etwas unsicher, sagen aber dann, dass es ja auch egal ist und gehen auch diese Strecke.

Nach einigen Minuten habe ich St-Jean endgültig verlassen und der Regen hört auf, ja, es kommt sogar die Sonne durch und scheint ins hinter mir liegende Tal. Die Schatten der Wolken ziehen über die kleiner werdenden Häuschen und rechts neben mir erscheint ein schöner Regenbogen (Bild rechts). Trotz der Anstrengung, die ich nun mittlerweile merke, kommt Freude über dieses Naturschauspiel auf und gleichzeitig ziehe ich neue Kraft daraus. Von nun an geht es furchtbar steil bergauf. Mein Herz rast und die Lunge pumpt. Ich muss öfters stehen bleiben um Luft zu holen. Durch den Regen bin ich von aussen nass und durch das Schwitzen auch von innen. Das klamme Gefühl ist nicht schön. Ich treffe zwar immer wieder auf Pilger, manchmal auch Pilgergruppen, aber kaum einer redet. 'Kein Wunder, die werden natürlich auch kaum Luft bekommen', denke ich mir. Zu all dem kommt noch hinzu, dass mir die Schultern furchtbar schmerzen. Das Gewicht des Rucksacks ist enorm und bald schon muss ich Pause machen, um den Rucksack kurz abzustellen. Ich trinke und trinke, denn bald kommt die nächste Quelle, an der ich nachfüllen muss. Inzwischen hat es wieder angefangen leicht zu regnen und kühler wird es durch die Höhe auch. Aber die Aussicht ist fantastisch. Wir sind schon relativ weit oben, da verlässt der Weg den Asphalt und geht auf einem Geröllweg wieder sehr steil bergan. Ich höre die Mitpilger tief atmen. Weiter geht es nach oben. Von dort bietet sich wieder eine wunderbare Aussicht. Es ist fast, als säße man im Flugzeug und schaue von weit oben hinab auf die Erde. Alles wirkt sehr winzig und die Berge strahlen mit ihren grünen Wiesen eine seltsame Ruhe aus. Wieder kommt die Sonne durch und auf einmal wird es auch sehr warm. Bei einer weiteren Pause ziehe ich die Jacke aus. Ich laufe aber nur wenige Meter so und ziehe sie bald wieder an, denn ich fürchte, dass ich mich erkälte. Mein Fleece-Pullover ist völlig durchgeschwitzt, mein T-Shirt darunter ist so nass, als wäre es im Wasser gelegen. Entsprechend kalt wird es mir bald. Also laufe ich in voller Montur weiter, bald läuft das Schwitzwasser zu den Ärmeln heraus. Das ist echt unangenehm!

Der Weg geht jetzt noch immer bergan, aber nicht mehr so steil. Vor mir, hinter mir und neben mir sind endlose Wiesen, in der Ferne höre ich seltsames Läuten. Plötzlich kommt mir auf dem Weg eine Herde freilaufender Pferde entgegen. Es sind bestimmt acht oder zehn Pferde und einige haben Glocken um den Hals. Sie schauen mich neugierig an, halten aber auch Distanz und gehen schließlich am äußersten Rand des Weges an mir vorbei, was mir, ehrlich gesagt, auch ganz recht ist. Diese Szene wiederholt sich noch einige Male auf dem Weg. Von den Weiden her höre ich weiteres Läuten und merke bald, dass auch die Kühe und die Schafe (Bild unten) Glöckchen haben und hier oben in den Pyrenäen ihr ganz eigenes Konzert anstimmen. Die Abstände zu den Mitpilgern vergrössern sich und so fühle ich mich bald relativ allein. Die Anstrengung ist groß, vor allem in den Schultern wegen dem Rucksack. Die Füße machen keine Probleme.







Bald erreiche ich die Vierge de Biakorri, eine Marienstatue mitten in den Bergen (Bild rechts). Sie ist aus der Ferne kaum auszumachen, aber ich entscheide mich, dort eine kurze Pause einzulegen.






Kurz danach steht ein weiterer Pass an und zur Feier des Tages ist dieser jetzt vollkommen in Nebel gehüllt. Auf einem Pfad, der übersät ist mit Geröll und der steil bergauf führt, geht es in den Nebel. Ich kann kaum zehn Meter weit sehen. Ich komme oben an, bin völlig fertig und denke das erste Mal: 'Vielleicht ist der Jakobsweg doch eine Nummer zu groß für mich und ich sollte es sein lassen.' Aber neben mir steht ein älterer Mann mit kurzen weißen Haaren, der sich ausruht, weil ihn dieser Pass genauso geschlaucht hat, wie mich. Ich stelle mich kurz neben ihn und denke dann: 'Wenn er das schafft, dann muss ich junger Spunt das doch auch schaffen.' Außerdem wird diese Etappe als die schwierigste des Weges beschrieben, also kann es danach nicht mehr schwerer werden. Wenn ich es hier also schaffe, werde ich wohl alle anderen Etappen auch schaffen. Der ältere Mann geht weiter, ich nasche noch schnell ein Stück Schokolade um Energie zu tanken. Kurze Zeit später überhole ich ihn und wir grüßen uns wieder freundlich. Uns beiden ist wohl bewusst, dass wir Leidensgenossen sind. Wir kommen ins Gespräch - auf Französisch. Er antwortet auf meine Frage, wo er herkomme: "Je suis Ierlandais." und ich freue mich, weil ich verstehe: "Je suis Neerlandais." Ich denke schon, dass ich mich mit ihm jetzt auf Niederländisch unterhalten kann, als er wiederholt und mitteilt, dass er Ire sei. Na gut, dann reden wir eben Englisch; alles ist besser als Französisch. Wir kommen an eine Quelle und unterhalten uns nur ein wenig. Die Anstrengung lässt keine langen Gespräche zu. Ich gehe dann weiter und er bleibt noch zurück. Rechts neben mir geht es nun einen steilen Hang hinunter, der mit Buchen dicht bewachsen ist zwischen denen sich der Nebel festgehangen hat. Es wirkt gespenstig.

Bald darauf treffe ich auf eine junge Pilgerin, die mir seltsam bekannt ist: es ist die junge Mitpilgerin, die am Bahnhof von Bayonne neben mir saß. Sie lacht, als sie mich sieht und nun unterhalten wir uns ein wenig. Sie ist auch ziemlich fertig, kann aber noch lächeln. Dann verabschiede ich mich wieder und ziehe weiter. Jetzt wird der Weg furchtbar und von Weg kann man eigentlich nicht mehr reden, denn vor mir ist nur noch Schlamm, Matsch und Wasser. Ich gehe also am Hang entlang auf kleinen Trampelpfaden, die andere Pilger vor mir als Alternative zur Schlammschlacht in den Pyrenäen angelegt haben. Auf diese Weise bin ich zwar ständig der Gefahr ausgesetzt, abzurutschen und mir was zu zerren oder gar zu brechen, aber wenigstens bin ich nicht vollkommen verdreckt.

Einige Zeit später sind die Pyrenäen fast überwunden und in der Ferne ist das Kloster von Roncesvalles (Bild oben) schon auszumachen. Jetzt gilt es den Abstieg zu meistern. Aufgrund der Warnungen meines Wanderführers gehe ich den Asphaltweg, denn der Waldweg soll zwar kürzer aber auch eine Tortur für die Knie sein. Die Sonne scheint nun wieder und mir ist wieder schrecklich warm. Auch wenn das der leichte Abstieg ist, so brennen mir trotzdem die Füße unerbittlich und auch hier geht es sehr steil bergab. Die Abtei will auch irgendwie nicht wirklich näher kommen.

Gegen 14:30 Uhr komme ich dann doch am Kloster an, nur um zu erfahren, dass das Pilgerbüro erst wieder um 16 Uhr öffnet und man vorher auch nicht in die Herberge komme. Ich bin entkräftet und genervt. Ich will nur noch aus meinen klammen Klamotten heraus und habe nicht wirklich Lust, mit 100 anderen Pilgern und 200 stinkigen Pilgerschuhen in einem Raum zu schlafen. Also entscheide ich mich, mir den Luxus eines Pensionszimmers zu gönnen. Roncesvalles hat ganze zwei Pensionen, die zusammen mit dem Kloster dann auch schon den Ort ausmachen. In der einen Pension ist alles voll, die andere bietet mir ein Doppelzimmer für 70 Euro die Nacht. Das ist ein herber Rückschlag, doch dann läuft mir plötzlich die bekannte Mitpilgerin von Bayonne wieder über den Weg. Auch sie ist fertig und wir unterhalten uns ein wenig. Irgendwann frage ich sie dann ob sie sich vorstellen könnte, sich mit mir ein Doppelzimmer in der Pension zu teilen. Da die Betten zu trennen sind, ist sie einverstanden und es klappt doch noch mit der Luxusübernachtung. Das Pilgerdasein ist mir - ehrlich gesagt - nach dieser Hammeretappe ziemlich egal. Ich freue mich über die warme Dusche, das sehr schöne Zimmer und die Gesellschaft der Mitpilgerin, von der ich erfahre, dass sie Carla heisst und aus Südafrika kommt.

Am Abend gönne ich mir zudem noch ein Pilgermenü, also ein dreigängiges Abendessen (Bohnensuppe, Forelle mit Pommes, Joghurt) für 8 Euro in der Pension. Dort sitze ich wieder neben meinem älteren irischen Mitpilger, der Roy heisst und vor hat, nur bis Logrono zu laufen. Wir haben einen schönen Abend und lernen uns ein wenig näher kennen.

Der Abend wird dann mit der Pilgermesse im Kloster beendet. Wir Pilger aus aller Herren Länder werden hier besonders gesegnet und fallen anschließend wohl alle todmüde ins Bett. Aber die angeblich schwerste Etappe ist jedenfalls schon mal geschafft!