Donnerstag, 31. Januar 2008

Etappe 12: Von Granón nach Belorado

Es ist Samstag, der 4. August 2007.

Nach einer recht angenehmen Nacht wachen wir im leisen Trubel bereits packender Mitpilger im Schlafsaal auf. Viele versuchen sich wirklich leise zu verhalten um die anderen nicht zu stören. Andere aber versuchen sich mittels ihrer Halogen-Grubenlampen, die sie auf dem Kopf tragen, in der Dunkelheit des Raumes zurecht zu finden und alle Sachen zu packen. Dabei machen diese Dinger ein so furchtbar grelles Licht, als würde jemand in voller Inbrunst in den Saal schreien. Von dem ständig wackelnden Lichtstrahl wird damit wohl auch der letzte Pilger wach.


Nachdem wir gepackt haben, brechen Sieglinde, Sabine, Julian und ich auf und begeben uns auf den noch finsteren Weg, der allerdings durch den Mond recht gut erhellt wird. Nach einiger Zeit fällt Julian ein, dass er den Fotoapparat in der Herberge vergessen hat. Noch ist es nicht zu weit, um zurück zu laufen und ihn noch zu holen, aber es wird sicherlich eine knappe halbe Stunde dauern, bis er zurück ist. Für einen Moment sind wir alle ein wenig verwirrt, obwohl wir diese Situation ja doch schon kennen, denn Julian scheint sehr oft Dinge irgendwo zu vergessen. Es ist aber mehr als verständlich, dass man für einen Fotoapparat zurückgeht, sind darauf doch bereits so viele unwiderbringliche Impressionen dieser Reise festgehalten. Julian rennt also zurück zur Herberge und wir drei bleiben auf weitem Feld stehen. Sabine möchte Sieglinde und mich nicht aufhalten und rät uns, doch weiterzugehen. Da meine heutige Tagesetappe aber mit 16 km nur sehr kurz geplant ist und wir zeitlich damit sehr gut unterwegs sind, entscheide ich mich, mit Sabine zu warten. Sieglinde möchte aber doch gern weiterziehen und damit kommt für uns alle sehr überraschend schnell ein Abschiedsmoment, mit dem wir nicht so bald gerechnet hatten. Da Sieglinde, wie auch Sabine und Julian nur bis Burgos laufen und dann auf andere Weise ihren Weg fortsetzen, ist es überdies wahrscheinlich, dass man sich nicht noch einmal auf dem Weg trifft, denn Burgos liegt nur noch zwei Etappen entfernt. Wir umarmen Sieglinde, bedanken uns für die schöne Zeit und wünschen uns alles Gute. Dann wandert sie gemütlich weiter und bald verliert sie sich im Dunkel des Morgens, wo wir sie nicht mehr sehen können. Für einen Moment ist es still. Weit und breit sind nur Felder und wir beide warten auf Julian, der hoffentlich die Fotokamera gefunden hat. Es ist ein komisches Gefühl, gerade jemanden aus unserer Gruppe verabschiedet zu haben und doch wird mir klar, dass es oft so ist im Leben. Es dauert in der Regel immer etwas länger bis man jemanden kennen- und vor allem schätzen gelernt hat und leider kommt viel zu oft ein plötzlicher Abschied, sei es aus veränderten Lebens- oder Arbeitsumständen, aus Krankheit oder Tod.

Nach einigen Momenten hören wir Schritte und denken, es ist Julian, doch es sind andere Pilger, die sich auf den Weg machen und mit ihrer Taschenlampe an uns vorbeiziehen. Kurze Zeit darauf kommt Julian aber und hat auch den Fotoapparat dabei. Er ist offenbar die ganze Strecke gerannt, denn er atmet schnell und ist etwas außer Puste. Naja, er hat seinen Frühsport jetzt jedenfalls schon hinter sich. Wir drei ziehen also weiter durch die endlose Ebene, die das näher kommende Burgos und die dahinter befindlichen spanischen Hochebenen schon ankündigt.

Nach einigen Kilometern kommen wir an die Grenze zur Region Kastilien und lassen das Rioja hinter uns. Kastilien ist neben Aragon die historisch wohl wichtigste Provinz Spaniens und außerdem auch eine, wenn nicht sogar die größte, was uns auch an dem Grenzstein mit Wegmarkierung deutlich wird. Ich merke, wie meine Gedanken um die noch bevorstehende Strecke auf dem Jakobsweg kreisen. Das Rioja war schön, grün und sehr abwechslungsreich wenngleich auch oft sehr heiß um diese Jahreszeit. Vor allem waren die bisherigen Regionen aber dadurch gekennzeichnet, dass ich mit lieben Menschen unterwegs war. Zuerst Carla aus Südafrika, dann die netten Dänen, Roy aus Irland und bisher Sieglinde, Sabine, Julian, Ute und Peter. Jetzt steht also Kastilien an und bei dem Gedanken an die Zeit nach Burgos wird mir ein wenig bang. Vor den Mesetas, also der spanischen Hochebene, habe ich doch etwas Angst, denn ihr werden im Sommer extrem heiße Temperaturen nachgesagt. Außerdem soll es über hunderte von Kilometern sehr monoton durch endlose Flächen gehen, von denen ich ja hier schon einen kleinen Vorgeschmack bekomme. Und dann kommt dazu, dass Sieglinde bereits weg ist, Sabine und Julian in Burgos aus Zeitgründen bis León vorfahren und dann weiterlaufen und Ute und Peter von Burgos aus zurückreisen. Ich werde also dann wieder allein sein. Für einige Momente halten mich diese Gedanken gefangen, doch dann erkenne ich auch die Chance, die in dieser unausweichlichen Veränderung stecken kann. Es wird dann wieder Zeit sein, mich wieder mehr mit mir selbst auseinanderzusetzen, ich werde andere Leute kennenlernen und ich kann vielleicht auch Gott wieder intensiv erleben, ähnlich wie es vielen Wüsteneremiten geht oder ging. Und außerdem sollte ich den Moment genießen und mir weniger Gedanken über die Zukunft machen. Also geht es einfach weiter.


Sabine und ich unterhalten uns auf der Strecke und dabei haben wir viel Spaß, kommen aber auch zu tiefgehenden ernsthaften Themen. Über all dem vergesse ich sogar, dass meine Füße wieder schmerzen und sich leider immer neue Blasen bilden.


Gegen Mittag erreichen wir Belorado und ziehen ein in eine recht schöne gemütliche private Herberge, die saubere sanitäre Anlagen, einen netten kleinen Garten und einen Swimming Pool hat. Nach der obligatorischen Dusche und Wäsche, setze ich mich in den Garten und esse etwas. Neben mir sitzt ein Ehepaar mittleren Alters und beide unterhalten sich auf Niederländisch. Das ist mein Startzeichen und so spreche ich sie auch auf Niederländisch an, denn bisher habe ich von diesen netten Zeitgenossen nur wenige getroffen. Die beiden halten mich auch für einen Landsmann und sind erstaunt, als ich ihnen sage, dass ich Deutscher bin. Es stellt sich im Gespräch heraus, dass beide auch vor ca. 25 Jahren nach Neuseeland ausgewandert sind und dort nun auf niederländische Art Käse machen und dort verkaufen. Auf dem Jakobsweg sind sie schon fast seit Eindhoven unterwegs, mussten aber aufgrund einer Verletzung der Frau zwischendurch wieder umkehren, um dann vom letzten Punkt wieder neu anzufangen. Die beiden sind supernett und wir verstehen uns prächtig, was meine früheren Gedanken über das Alleinesein auf dem Weg wieder in weite Ferne rückt.

Am Nachmittag versorge ich zunächst meine Füße. Entgegen vieler Meinungen gehe ich nun auch dazu über, meine Blasen zu öffnen und austrocknen zu lassen. Das ist zwar ziemlich eklig, aber es nimmt wenigstens diesen furchtbaren Druck auf der Haut weg. Vorher war ich noch eine Runde im Pool schwimmen - eine herrliche Abwechslung zum ständigen Laufen und eine prima Abkühlung bei der Hitze. Dabei treffe ich auch auf ein junges Ehepaar aus Korea. Der Mann ist auch im Pool und hat vom Hals bis zu den Fußzehen überall rote Punkte am Körper. Ute und Peter, die auch hier übernachten, erzählen mir später, dass es sich dabei um Flohbisse handelt, die er sich wohl in einer der Herbergen eingefangen hat. Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich fühle. Ich schwanke zwischen der Angst, ein ähnliches Schicksal zu erleiden und Freude und Dankbarkeit darüber, bisher nicht von gefräsigen Pilgerflöhen verfrühstückt worden zu sein. Es scheint dem Mann aber trotzdem gut zu gehen. Nicht alle Herbergen sind demnach hygienisch so einwandfrei, wie diese.

Am Abend gehen Ute, Peter, Sabine, Julian und ich gemeinsam auf Nahrungssuche, sprich wir wollen uns noch gemeinsam ein Pilgermenü gönnen. Dabei fallen uns zwei Dinge auf: Zum einen ist Belorado erstaunlich lebendig, was sich recht bald dadurch erklärt, dass hier an diesem Wochenende eine Fiesta gefeiert wird. Zum anderen ist es auch am Abend noch schrecklich heiß. Als wir durch die Stadt laufen, fällt uns eine dieser digitalen Thermometeranzeigen auf, die uns gegen 19 Uhr satte 39°C in der Sonne anzeigt. Unglaublich! Wir suchen uns dann eine nette Lokalität, die ein Pilgermenü anbietet, doch vorher müssen wir noch ein wenig warten. Ute und Peter laden uns in dieser Zeit zu ein paar Tapas ein, leckeren kleinen Häppchen verschiedenster Art, die wunderbar vielfältig sind und prima schmecken. Der Abend klingt dann bei einem durchschnittlichen Pilgermenü aus, bei dem wir auch an Sieglinde denken müssen, die nun nicht mehr bei uns ist.