Mittwoch, 6. August 2008

Etappe 21: Von Puente Villarente nach León

Es ist Montag, der 13. August 2007.

In meinem kleinen Pilgerpalast gönne ich mir heute den Luxus bis 6:30 Uhr auszuschlafen und auch dann alles ganz ruhig anzugehen. Es ist schon komisch, wenn ich daran denke, dass ich sonst mitunter um diese Zeit bereits eine Stunde unterwegs war. Aber ich weiß auch, dass ich heute eine leichte und kurze Etappe in die Stadt León vor mir habe und damit das letzte städtemäßige Highlight des Weges vor Santiago ansteht. Als ich jedoch gegen 7:30 Uhr die Herberge verlasse will es der Zufall und ich blicke nahezu in die Augen von Lili und ihren Begleitern, der Österreicherin Heidi und dem slowenischen Ehepaar. Was für ein Tagesanfang! Dankenswerterweise laufen die vier auf der anderen Straßenseite und bald schon habe ich sie auch aus den Augen verloren. Ich muss schon etwas schmunzeln über dieses Ereignis, weil mir einige Kapitel des Buches von Hape Kerkeling einfallen, in denen er auch ständig „Schnabbel“ und ihrem Mann begegnet und sie ähnlich gern hat, wie ich wohl diese vier.


Der weitere Weg in die Stadt ist nicht besonders schön. Es ist das typische Vorstadtgetümmel mit anfangs noch einigermaßen angenehmen Orten inmitten von Landwirtschaftsgebieten und dann zunehmend Industriegebiete und Dienstleistungszentren, die eindeutig zeigen, dass man sich wieder an einem Ort befindet, der für sich den Anspruch erhebt, Zivilisation zu sein. Unterwegs treffe ich auf ein paar Versprengte der italienischen Pilgerwelle, die zweifellos wieder in Mansilla de las Mulas ihre nächtliche Sandbank gefunden hat. Kurz bevor dann die Innenstadt von León in weiter Ferne sichtbar wird, wird es richtig gefährlich. Die Pilger - und somit auch ich – müssen eine dichtbefahrene vierspurige Schnellstraße überqueren, die ich eigentlich eher als Autobahn bezeichnen würde. Danach müssen wir auch noch ein Stück direkt neben der Fahrbahn laufen und um auch nur den geringen Grad an Sicherheit zu nutzen, den man hier hat, laufe ich in der Abwasserrinne (die allerdings trocken ist). Kurz vor mir müssen auch ein paar Radpilger ihre Drahtesel durch diese Rinne schieben, denn Fahren wäre hier zu gefährlich. Gott sei Dank ist die Straße um diese Uhrzeit noch nicht so dicht befahren, so dass man eine Chance hat, die Fahrbahn in einem Stück zu überqueren.


Wenig später komme ich an ein mir an sich bekanntes Schild, mit blauem Untergrund und gelber Pilgermuschel. Diese Schilder trifft man immer wieder auf dem Weg und zeichnen ihn als europäisches Kulturerbe aus. Bei diesem Schild jedoch hat jemand mit Marker unter das „Camino de Santiago“ noch geschrieben „Camino comercial“. Diese kritische Bemerkung gibt mir zu denken: es stimmt, vieles entlang des Jakobsweges erinnert nicht mehr an die Pilgeratmosphäre, wie es sie wohl im Mittelalter gegeben hat. Es gibt heute zahlreiche Herbergen und immer wieder entstehen neue, viele Herbergen sind modern ausgestattet, manche sogar mit Swimmingpool, in nahezu allen findet man einen Internetanschluss oder Telefon und fast überall bezahlt man zwischen fünf und zehn Euro. Sicher ist der Weg damit furchtbar kommerzialisiert, denke ich mir, und irgendwie ist es tatsächlich schade, dieses mittelalterliche Pilgergefühl damit nicht mehr zu erleben. Aber ich gebe auch zu, dass ich ungern auf die Kommunikationsmöglichkeiten via Internet verzichten möchte. Es ist also ein zweischneidiges Schwert, im Prinzip aber – und da bin ich mir sicher – haben auch unsere mittelalterlichen Vorfahren den Weg wirtschaftlich zu ihren Gunsten ausgenutzt. Geschichte wiederholt sich manchmal eben doch.




Mittlerweile bin ich in die weitere Innenstadt Leóns gekommen und auf der Suche nach der Herberge. Als Ziel habe ich mir das Kloster der Benediktinerinnen ausgesucht, weil es unmittelbar im Stadtzentrum liegt. Allerdings ist es schwierig, den Weg zu finden. Immer wieder tauchen gelbe Pfeile auf und verschwinden. Ich verliere den Überblick im Großstadtgetümmel und lande scheinbar vor einer anderen Herberge am Stadtrand. Dort sieht mich ein älterer spanischer Mitpilger, der mir vor einigen Tagen in Bercianos schon einmal einen Paraguayo (eine Frucht, sehr lecker, aber schwer zu beschreiben) angeboten hat. Er erkennt meine Hilflosigkeit und begibt sich gleich mit mir auf den Weg um die andere Herberge zu suchen. Immer wieder spricht er Spanier an und fragt sie für mich, wo das Kloster sei. Dabei geht er immer weiter mit, was ihm scheinbar nichts ausmacht. Dann geht er in ein Geschäft und fragt noch einmal und beschreibt mir dann bruchstückhaft den weiteren Weg. Ich danke ihm sehr und es war wirklich sehr nett, dass er mich so lange begleitet hat. Später muss ich trotzdem noch einmal zwei ältere spanische Herren ansprechen, die mir auch ein wenig weiterhelfen. Bei all den kleinen verwinkelten Gassen in León kann ich mir keine Vorwürfe machen, das Kloster nicht gleich gefunden zu haben, erreiche es aber dann doch circa eine Stunde, bevor es für Pilger öffnet. In der Wartezeit treffe ich auf ein sehr nettes australisches Ehepaar, mit denen ich mich richtig gut unterhalten kann. Da vergeht die Zeit ganz schnell und ich bedaure es, dass die beiden ihre Pilgerreise hier beenden, denn gerne hätte ich sie auf weiteren Etappen wiedergetroffen. Irgendwann treffen auch Lili und Konsorten wieder ein und als die Klosterpforte öffnet und sich alle schön in der Reihenfolge ihrer Ankunft anstellen, wiederholt sich leider, was auch schon in Bercianos geschehen ist und die vier sind viel früher drinnen als ihnen zusteht. Die Herberge ist recht angenehm und die Hospitaleros sind sehr nett. Man wird einzeln in die Schlafsäle geführt, die nach Geschlechtern getrennt sind, dort wird alles erklärt, die Betten werden zugewiesen. Natürlich treffe ich auch viele der Italiener wieder, aber inzwischen habe ich mich an die meisten gewöhnt und manche haben wohl unterwegs ihr Machogetue zwangsläufig gegen Schmerzen an den Füßen eintauschen müssen. Zwar ist diese Herberge auch sehr groß und bald auch voll, aber man fühlt sich hier nicht so beengt wie in Bercianos und somit ist alles sehr erträglich. Ein Bett weiter liegt ein Deutscher namens Holger, mit dem ich mich auch ein wenig unterhalten kann und bald treffe ich auch Felix und seine Oma wieder.


Später erkunde ich die Innenstadt von León. Es ist hier sehr gemütlich, ähnlich wie in Burgos und alles gruppiert sich auch hier um die Kathedrale. Mein Versuch, etwas zu essen fordert leider ein wenig Ausdauer, denn schon auf die Karte muss ich 20 Minuten warten. Das Bestellen, Essen und Bezahlen dauern dann nochmal eine Stunde, wobei das Essen den geringsten Zeitaufwand fordert. Nun gut, es ist Spanien, hier geht es etwas langsamer zu und außerdem habe ich genug Zeit. Der Besuch der Kathedrale hat dann wieder einiges entschädigt. Was für ein beeindruckendes Gebäude. Es ist viel dunkler als der Dom in Burgos, dafür tauchen aber unzählige bunte Kirchenfenster in riesigen Dimensionen das Innere in ein ganz mysteriöses Licht. Wenn man sich die Fensterbilder einzeln ansieht ist es fast, als würde man einen Film sehen. Die zahlreichen gotischen und romanischen Elemente zeugen von einem tiefen Gottvertrauen der Erbauer und lassen auch bei mir eine gewisse religiöse Stärke aufkommen. Damit wird diese Kirche fast schon zu einer Tankstelle für den Jakobsweg. Obwohl ich meine, dass mir die Kathedrale von Burgos noch besser gefällt, berührt mich dieses Gebäude hier sehr stark.




Am Abend sind alle Pilger im Kloster zu einer Pilgermesse mit den Ordensschwestern eingeladen. Das Angebot nehme ich gerne an und diese feierliche und andächtige Stille während der Messe und dem zarten Gesang der Schwestern ist Balsam für die Seele. Man könnte sich fast für jeden Abend eines Tages eine solch bedächtige Vorbereitung auf die Nacht wünschen. Mir kommt es ein wenig so vor, als würden einen die Engel ins Reich der Träume fliegen. Aber vorher herrscht doch noch einmal klösterliche Strenge, denn Punkt 22 Uhr wird das Licht gelöscht und herrscht Nachtruhe.