Sonntag, 3. August 2008

Etappe 18: Von Carrion de los Condes nach Lédigos

Es ist Freitag der 10. August 2007.

Die Nacht in der Klosterherberge war angenehm ruhig. Trotz voller Belegung hat niemand geschnarcht, es war nicht kalt und auch nicht zu warm. Früh am morgen brechen ein paar Radpilger auf und durchleuchten wieder mit ihren Halogen-Strahlern auf dem Kopf den ganzen kleinen Raum, so dass auch ich wach werde. Gegen 6 Uhr mache ich mich dann auch auf den Weg. In Carrion selbst muss ich noch sehr aufpassen, um den Weg nicht zu verlieren, denn die gelben Pfeile sind nur schlecht vorhanden oder zu erkennen. Aber schon bald nach Verlassen der Stadt bin ich wieder ziemlich allein auf dem Weg durch die morgendliche Landschaft. Ich laufe gemütlich, denn für heute habe ich mir nur 25 km vorgenommen und möchte bis nach Lédigos gehen. Die gestrige Etappe steckt mir doch noch ziemlich in den Beinen. Nach gut einer Stunde komme ich an der Ruine einer alten Abtei vorbei und wenig später überfliegt mich ein Schwarm von bestimmt 20 Störchen. Was für ein imposanter und majestätischer Anblick. Bisher hatte ich mich schon immer gefreut, ein paar Störche auf Kirchtürmen zu sehen oder mal einen im Feld, aber nun von so vielen dieser schönen Vögel überflogen zu werden hinterlässt schon einen besonderen Eindruck bei mir. Es sind genau diese Erlebnisse, die den Weg so wundervoll machen, denn hier hat man Zeit und Ruhe diese Dinge bewusst wahrzunehmen, ihre Schönheit zu erkennen und daraus auch die Kraft zu nehmen um die noch bevorstehende Strecke zu bewältigen. Während ich also so darüber nachdenke und mich freue, erreiche ich einen besonderen Abschnitt der heutigen Etappe: die Via Aquitana. Auf den nächsten knapp 15 km werde ich diese alte Römerstraße begehen, die es nun in mehr oder weniger veränderter Form hier schon seit gut 2000 Jahren gibt. Was für ein Gefühl, gerade für mich, einen Historiker. Ich kann nicht umhin zu sagen, dass ich mich auf diesen Wegabschnitt besonders freue. Ich stelle mir vor, wie vor hunderten von Jahren römische Soldaten hier entlang marschierten, Karren mit Waren entlanggezogen wurden und diese Straße das gigantische Römische Reich durchzog. Ein Wegstein markiert den Anfang und nicht nur der Blick zurück zu den alten Römern geht mir durch den Kopf, sondern auch der Gedanke, dass seither sicher unzählige Pilger diesen Weg in Richtung Santiago und vielleicht auch zurück gegangen sind. Es ist eben wie die Sternenlichter der Milchstraße, jeder Pilger hat vielleicht ein Lichtlein angezündet auf seinem Weg nach Santiago und ich darf nun auch einer davon sein.

Scheinbar endlos und teilweise schnurgerade zieht sich die Via Aquitana durch die flache Landschaft. Nur wenige Bäume am Rand versperren manchmal die Sicht in die Ebene, die weitgehend aus Getreidefeldern und ein paar Sonnenblumenfeldern besteht. Hier scheint in der Tat die Zeit stehen geblieben zu sein; es wirkt fast wie ein gigantisches Freiluftmuseum. Nach circa zwei Kilometern spüre ich auch die Härte dieses Ortes. Der Weg ist leider mit Geröllsteinen übersät und sie liegen so dicht beieinander, dass man nicht ausweichen kann. Die Begeisterung beginnt langsam zu schwinden, was auch der dauernden Monotonie dieser schnurgeraden Strecke zu schulden ist. Bald schon spüre ich jeden spitzen Stein unter meinen Füßen, trotz der Wanderstiefel. Es ist zwar am Morgen nicht heiß, aber die Via Aquitana hat aufgrund ihrer Beschaffenheit ihre ganz eigenen Herausforderungen. Es sind nun auch mehr Pilger unterwegs und sie verteilen sich wie kleine farbige Punkte auf dieser Linie im Land. Bei mir kommt Hunger auf, die Füße schmerzen wieder und schon bald ertappe ich mich bei dem Gedanken: 'Scheiß Römerstraße!' Nach spätestens drei Kilometern habe ich wirklich die Nase voll und denke mir, dass wahrscheinlich jeder Pilger hier auch einen Stein hinterlassen hat, um es den Nachkommenden ein wenig schwerer zu machen. Endlich kommt eine improvisierte Raststation in Sicht und der warme Kaffee und das süße Teilchen, was ich mir dort zum Frühstück gönne, lassen den aufgekommenen Frust vorerst vergessen. Aber es stehen ja noch mindestens weitere zehn Kilometer auf diesem Schotterweg an!

Es hilft nichts, es gibt hier keine Alternative. Und so lasse ich mich weiter von den Römern traktieren bis ich am Vormittag endlich Calzadilla de la Cueza erreiche und die Via Aquitana verlassen kann. Hier stößt eine junge Deutsche namens Lili zu mir. Ich hatte sie schon früher auf der Etappe nach Obanas kurz getroffen und gestern in Carrion zusammen mit einer Österreicherin, die ich auch schon kannte, plötzlich wiedergetroffen. Lili hat gerade ihr Abitur gemacht und hängt sich nun an mich heran. An sich freue ich mich, wieder etwas Gesellschaft zu haben, doch auf dem noch verbleibenden Weg nach Lédigos merke ich, dass sie doch recht gewöhnungsbedürftig ist. Sie redet nahezu unentwegt – was ihr manchmal die Luft zum Gehen zu nehmen scheint – und ist dabei irgendwie furchtbar von sich überzeugt. Dabei strahlt sie einen gewissen Ehrgeiz aus, den ich eher bedrückend empfinde und damit wird die Gesellschaft leider weniger angenehm. Schon immer empfand ich Menschen, die so ehrgeizig sind, dass sie anderen Menschen um sich herum den Raum zum Leben nehmen als irgendwie bedrohlich. Oft entsteht dabei eine Konkurrenzhaltung in die man hineingezwungen wird, ohne es tatsächlich selbst zu wollen. Allerdings habe ich nicht den Mut, ihr meine Meinung diesbezüglich klar und offen zu sagen und denke mir, dass ich sie vielleicht morgen auch wieder irgendwie los bin. Schon gegen Mittag erreichen wir Lédigos und suchen die dortige Herberge auf. Wir sind die ersten Besucher und können uns damit beim Duschen, Wäschewaschen und Einkaufen völlig unbedrängt Zeit lassen. Während der anschließenden Mittagsruhe treffen dann auch andere Pilger ein und bis zum Abend wird es eine ganz angenehme Runde, wobei diese Herberge nicht ausgelastet ist und alles sehr entspannt zugeht.