Mittwoch, 30. Januar 2008

Etappe 11: Von Azofra nach Granón

Es ist Freitag, der 3. August 2007.

Nach einer angenehm ruhigen Nacht in unserem Zwei-Bett-"Zimmer" wache ich irgendwie doch zu früh auf. Heute wäre mal so ein Moment, wo ich gern wieder aussschlafen würde. Aber leider wird nun auch immer deutlicher, dass wir uns in einem regelrechten Pilgerstrom befinden und die Masse der Mitlaufenden macht mich zumindest manchmal unruhig über dem Gedanken, ob ich an meinem Wunschziel des Tages noch ein Bett bekomme. Und dann ist ja da auch noch die Mittagshitze, die einem den Spaß am Laufen trübt und schon allein deshalb ist es vernünftig, die angenehme morgendliche Kühle auszunutzen. Ich stehe also auf und merke, dass mein Fuß nicht mehr ganz so sehr schmerzt. Vielleicht geht es ja doch wieder bergauf, also wenigstens was den Fuß betrifft. Sieglinde ist auch schon wach und hat gepackt und bald schon sind wir wieder gemeinsam unterwegs.

Jedesmal wenn man schon so knapp zwei Stunden unterwegs ist und der Sonnenaufgang bevor steht, ist es für mich ein besonderer Moment. Wir laufen immer in Richtung Westen und damit geht die Sonne immer in unserem Rücken auf. In der Tat laufen wir ihr auch ein wenig davon und wollen vor ihr in der Herberge ankommen. Aber diese wunderschöne spanische Landschaft hat auch einen besonderen Zauber bei Sonnenaufgang. Als Pilger nimmt man den Tagesbeginn anders wahr, ja, vielleicht nimmt man ihn überhaupt erst wahr, weil man hier nichts anderes hat, das einem den Kopf zudröhnt. Keine Arbeit, keine Pflichten, außer das Tagesziel zu schaffen. Man ist immer an der frischen Luft (mal abgesehen von den Strecken, die an den Fernverkehrsstraßen entlang gehen). Als Pilger lebt man mit der Natur, mit den anderen Pilgern und vor allem mit sich selbst. Es bleibt auf dem Weg viel Zeit, sich über sich selbst, sein Leben, seine Mitmenschen und über ganz grundsätzliche Dinge des Lebens Gedanken zu machen. Das Leben bekommt auf dem Jakobsweg einen anderen Rhythmus und manchmal trifft man auf wildfremde Menschen und merkt, dass man mit einigen davon im selben Takt schwingt. Andere überraschen einen im positiven oder im negativen Sinn, doch letzteres ist mir hier noch kaum passiert (sieht man mal von den Schnarchattacken ab). Jetzt bin ich schon fast zwei Wochen unterwegs und von Zuhause weg. Ab und an fehlen mir meine Familie und meine Freunde noch, aber ich merke auch, dass ich nun hier auf dem Weg bin und mir gerade die Distanz gut tut und mir Raum verschafft zum Nachdenken und zu einem Perspektivwechsel auf die vielen Dinge, die mich daheim umgeben. Und ich merke auch, dass es mir leichter fällt, mich hier zurecht zu finden, eben meinen Takt im Laufen, im Denken, im Fühlen und in der Wahrnehmung zu finden. Dafür bin ich sehr dankbar und ich bin dankbar für die Menschen um mich herum.

Während wir durch die Rioja Alta ziehen, die mit ihren Getreidefeldern golden unter dem blauen Himmel glänzt, fällt mir wieder das große Ziel ein: Santiago de Compostella. Es sind nun noch weniger als 600 km bis dorthin. Das heisst, ich habe bereits gute 200 km hinter mir, eine große Zahl. Allerdings sind die noch verbleibenden 600 km eine viel größere Zahl und für mich kaum vorstellbar, diese Entfernung noch zu Fuß zurückzulegen. Dennoch, ich merke, dass mir ab und an schon fast visionsartig vor Augen die Ankunft in Santiago erscheint. Diese Momente sind sehr intensiv und die Vorstellung, schließlich dort anzukommen, treibt mir schon jetzt manchmal fast die Tränen in die Augen. Wie wird es wohl erst sein, wenn ich wirklich in die Stadt wandere und dann vor der Kathedrale stehe?
Am späten Nachmittag kommt die Stadt Santo Domingo de la Calzada in Sicht (Bild rechts). Sieglinde, Sabine, Julian und ich nehmen uns vor, dort ein wenig zu pausieren und die örtliche Spezialität zu probieren. Dabei handelt es sich um Ahorcaditos, kleine Gehängte. Das ist ein Blätterteiggebäck in Form einer Pilgermuschel, mit Creme gefüllt und mit einem kleinen gehängten Männlein verziert. Es geht auf eine schöne Legende zurück: Demnach soll im 16. Jahrhundert ein deutscher Pilger auf dem Weg unterwegs gewesen sein und ist nach Santo Domingo gekommen. Dort verliebte sich ein junges Mädchen in ihn, doch der Gute konnte diese Gefühle nicht erwidern. Enttäuscht bezichtigte ihn die Verschmähte des Diebstahls und arrangierte alles, dass der Arme gehängt wurde. Der Heilige Jakobus aber soll den jungen Mann selbst auf den Schultern gestützt haben, als ihn seine Eltern am Galgen ein letztes Mal sehen wollten. Daraufhin rannten diese zum Richter, der gerade beim Mittagsmahl saß und berichteten ihm von dem Wunder. Der Richter soll daraufhin gesagt haben, der Junge sei so tot, wie das Hühnchen, welches er gerade essen wolle, woraufhin das Geflügel aufstand und krähend über den Tisch flatterte.


Als wir in Santo Domingo ankommen und die dortige Kirche (Bilder oben) besuchen, wird uns diese Legende noch zusätzlich veranschaulicht, da man seit diesem Zeitpunkt immer ein Paar Hühner in einem besonders schönen Käfig an der Wand hält. Wir vier ruhen uns dann in einem kleinen gemütlichen Feinkostladen aus und genießen unsere Ahorcaditos bevor es weiter durch die Stadt auf dem Jakobsweg geht. Am Stadtrand überqueren wir den fast ausgetrockneten Rio Oja, nachdem die Region ihren Namen hat und begeben uns in der Mittagssonne weiter nach Granón. Dabei treffen wir nicht nur wieder auf Ute und Peter, sondern auch auf ein paar berittene Pilger. Die sind wirklich nicht so häufig, wie man auch an den Reaktionen der Bewohner von Granón erkennt.
In der Herberge gleich neben der Kirche erhalten wir ein Nachtlager, wieder auf einfachen Turnmatratzen aber dafür hat das alte Gebäude mit direktem Zugang zur Kirche Stil und dieser seltsam heilige Geruch von Weihrauch, der jahrhundertealte Traditionen in sich birgt dringt ab und an in den Schlafraum. Im Laufe des Nachmittags kommen noch viele Pilger und keiner wird weggeschickt, auch als die Herberge an sich schon komplett überfüllt ist. Das bedeutet leider, dass man mitunter Stunden warten muss, um mal die Dusche benutzen zu können und auch die Einladung zum gemeinsamen Essen am Abend wird damit nahezu hinfällig, es sei denn es käme zu einer erneuten Speisung der Fünftausend. Andererseits ist es schön, zu sehen, dass hier für jeden ein Platz da ist auch wenn manche Leute dann im Kirchenschiff schlafen werden.

Da wir vermuten, dass das gemeinsame Essen wenig Individualität besitzt, entschließt sich unsere kleine deutsche Pilgergruppe, gemeinsam im Ort ein Wirtshaus aufzusuchen. Das ist aber gar nicht so einfach, denn so groß ist Granón nicht. Als wir dann eine Art typische Dorfkneipe betreten, empfängt uns die Wirtin mit strahlenden Augen und schlägt uns verschiedene Möglichkeiten vor, uns ein Pilgermenü zu zaubern, indem sie uns nach und nach zeigt, was sie noch so in der Küche hat. Wir lassen uns noch etwas zweifelnd auf ihre Präsentation ein und begeben uns zu Tisch. Die Frau gibt sich große Mühe, schickt sogar ihren Mann noch los, Brot zu holen. Einfach aber sehr liebevoll bringt sie uns leckere eingelegte Paprika, brät uns Fleisch, serviert uns Chorizowurst und fragt dabei immer, ob es genug ist oder ob wir noch etwas wünschen. Wenn wir um etwas mehr bitten, freut sie sich und eilt sofort in die Küche und wenn etwas aus ist, entschuldigt sie sich tausendmal. Es ist das wohl persönlichste Pilgermenü, das ich bisher hatte und in der Gesellschaft meiner Mitpilger und bei gutem Rioja-Wein macht es richtig Spaß. Wir genießen diesen Abend sehr und am Ende sind nicht nur wir glücklich, sondern wohl auch diese überaus nette Wirtin, die ihrem Land in Sachen Gastfreundschaft große Ehre bereitet hat. Damit geht erneut ein gelungener Tag zu Ende.