Samstag, 16. August 2008

Etappe 31: Von Ferreiros nach Ligonde

Es ist Donnerstag, der 24. August 2007.

Nach einer ruhigen Nacht in der vollen Herberge breche ich morgens zusammen mit Elisabeth in der Dunkelheit auf. Wir folgen den kleinen Straßen und Wegen durch die galizische Landschaft, die sich uns zu diesem Zeitpunkt mehr durch Geräusche, als durch visuelle Eindrücke vermittelt. Der Wind zieht leise durch die Bäume, in den Wäldern ruft ein Uhu beständig und scheint uns auch zu begleiten. Elisabeth trägt eine dieser Lampen auf dem Kopf, die mich so an Grubenlampen erinnern und damit kann sie den Weg wesentlich besser ausleuchten als ich mit meiner kleinen schwachen Taschenlampe. Auch der Himmel kann kein Licht spenden, denn es ist bewölkt und feucht, wenngleich es nicht regnet.
An einer Weggabelung suchen wir beide dann geschlagene zehn Minuten nach einem Hinweis auf den richtigen Weg. Der Wanderführer ist hier nicht eindeutig und weit und breit sind keine Pfeile zu erkennen. Dann aber findet Elisabeth den Pfeil und wir können uns beruhigt weiter auf den Weg durch Wälder und kleine galizische Gebirgsdörfchen machen. Die steinernen Häuser sind meist sehr alt und oft auch ein wenig verfallen. Dennoch sie strahlen dabei eine ganz angenehme Bescheidenheit aus, die mich fasziniert.
Kurz bevor wir die nächste größere Stadt Portomarín erreichen, kommen wir an einem Kilometerstein vorbei, der noch 91 km bis nach Santiago anzeigt. Ich erinnere mich, dass ich irgendwann gestern wohl die 100 km Marke passiert haben muss, habe sie aber offenbar übersehen. Ganz egal, denn mein Wanderführer informiert, dass es bei jenem Kilometerstein eigentlich noch 109 km sind bis Santiago und somit machen Elisabeth und ich an diesem Stein kurz Halt, der zwar nur noch 91 km anzeigt, es aber wohl eigentlich nun noch 100 km bis zum großen Ziel sind.
In der Ferne können wir auch schon einige sehr tief hängende Wolken erkennen. Es ist ein etwas ungewöhnlicher Anblick, eine so hartnäckige Wolkenfront zu sehen, die sich scheinbar nicht weiterbewegt; es ist wie ein Nebelvorhang, der uns den Blick auf Portomarín verstellt.
Danach geht es erst recht steil bergab, bevor wir an der Brücke über den Rio Mino stehen. Nun wird klar, warum die Wolken hier hängen. Sie haben sich über dem Fluss an den Hängen festgesetzt und ziehen nicht weiter. Gleich hinter der Brücke aber erscheint nun Portomarín, das sich in einem morgendlichen Dunst an den Hang schmiegt.



In Portomarín suchen wir uns ein schönes Café zum frühstücken aus. Von hier aus haben wir einen wunderbaren Blick hinunter auf den Fluss und kurz darauf stoßen auch Doro und Reinhard wieder zu uns. Nach dem Frühstück besuchen wir noch kurz die Altstadt mit der prominenten Kirche, die man Stein für Stein abgetragen und an dieser Stelle wiedererrichtet hat, als in den 1960er Jahren das alte Portomarín infolge der Stauung des Rio Mino untergegangen ist. Hier treffen wir auch den Amerikaner Jeff wieder. Er sitzt allein auf einer kleinen Mauer und sieht ziemlich niedergeschlagen aus. Er erzählt uns schließlich, dass er hier seinen Jakobsweg beenden muss, weil die Schmerzen und Wunden an seinen Füßen nicht besser werden. Seine Mutter und Schwester sind bereits weitergegangen und er wird nun erstmal einen Freund in Spanien besuchen und sich dort ein wenig ausruhen. Der arme Kerl tut uns allen sehr leid und wir versuchen, ihn wenigstens ein wenig aufzubauen. Mich berührt es auch, schon wieder jemanden zu treffen, der aufgrund gesundheitlicher Probleme seine Reise abbrechen muss. Es ermahnt mich aber gleichzeitig auch zur Dankbarkeit über meinen guten physischen Zustand.



In Portomarín verlassen wir Dorothee und Reinhard wieder und ich ziehe mit Elisabeth weiter. Später treffen wir uns dann kurz vor Hospital da Cruz noch einmal und laufen ein kurzes Stück gemeinsam. Landschaftlich ändert sich nicht viel; weiter geht es durch etwas hügeliges Gelände, manchmal entlang der Straße, manchmal auf kleinen Pfaden zwischen Feldern und durch Wälder. Allerdings ist es mittlerweile wieder recht warm, doch bis Ligonde ist es noch ein Stück. Da die Herberge dort im Wanderführer empfohlen wird, habe ich mir dieses Ziel gesetzt und Elisabeth begleitet mich weiter, so dass wir uns in den gemeinsamen Gesprächen etwas besser kennenlernen. Ihre Gesellschaft empfinde ich als sehr angenehm, weil sie so ein ausgeglichener, bedächtiger und auch tiefsinniger Mensch ist; nicht jemand, der einem ständig das Ohr zuquasselt, sondern mit dem man auch einmal schweigen kann. Außerdem macht es mir unglaubliche Freude, die Unterschiede im Vokabular des Österreichischen vom Deutschen herauszufinden. Wir haben dabei so viel Spaß und ich muss oft schmunzeln oder gar lachen, weil die Österreicher so eine galante Form der Sprache pflegen. Viele Worte würden in Deutschland wohl als altmodisch bezeichnet werden, aber genau das ist so wunderschön stimmig mit dem, was ichvvon Österreich sonst so kenne – Kultur, Kaffeehäuser, Gemütlichkeit, Stil. So lerne ich, dass ein Stift oder Kugelschreiber im Österreichischen einfach ein „Schreiber“ ist, dass Kleidung oder Kleid dort ein „Gewand“ ist, dass das Hackfleisch dort „Faschiertes“ heisst und der Fleischer oder Metzger bei unseren Nachbarn „Fleischhauer“ genannt wird (etwas martialisch, wie ich gestehen muss).
Als wir dann am frühen Nachmittag Ligonde erreichen, sitzen bereits einige Leute vor der kleinen Herberge. Einen davon erkenne ich als Tony, den älteren Norweger, den ich in Cacabelos kennengelernt hatte. Die anderen drei sind junge Amerikaner, welche die Herberge als Hospitaleros betreuen. Tony begrüsst uns herzlich und die anderen bieten uns gleich etwas zu Trinken an und nehmen uns sehr freundlich auf. Nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass hier circa sechs bis acht Hospitaleros tätig sind. Sie sind alle Amerikaner und kommen von einer christlichen Organisation, die in Barcelona am Campus caritativ-missionarisch tätig ist. Alle sind sehr jung, viele ungefähr in meinem Alter und manche haben sogar ihre kleinen Kinder dabei. So wirkt alles wie eine Großfamilie hier und mir gefällt es auf Anhieb sehr gut. Da die Herberge auch nur neun Plätze hat, bleibt alles sehr übersichtlich und gemeinschaftlich. Es gibt sogar richtige Betten – keine Stockbetten – mit richtigem Bettzeug, so dass wir unsere Schlafsäcke nicht brauchen. Es ist fantastisch und am liebsten würde ich hier noch eine Woche bleiben. Am Nachmittag werden wir eingeladen, in der Garage einen Jesus-Film anzusehen. Es ist wie Kino, mit Beamer und Leinwand und obwohl ich den Film aus den 60er Jahren schon kenne, schaue ich ihn mir gerne nochmal an. Die Herbergsgäste sind nun auch wunderbar international, neben mir als Deutschem und Elisabeth als Österreicherin gibt es noch Tony aus Norwegen (der übrigens auch noch sehr gut Niederländisch spricht), zwei Damen aus Dänemark und ein paar Spanier. Beim anschließenden Abendessen, welches die Hospitaleros liebevoll zubereitet haben, sitzen wir alle tatsächlich wie eine große Familie zusammen und es gibt Gelegenheit, sich in Gesprächen auszutauschen. Ich unterhalte mich lange mit Marrty und seiner Frau Angela, die beide Hospitaleros sind und mit José Manuel, einem jungen spanischen Pilger. Dieses Gespräch ist wunderbar und tut meiner Seele gut. Wir unterhalten uns über den Jakobsweg, ziehen Parallelen zwischen diesem Weg und dem Weg durch das Leben, tauschen Erfahrungen und Wahrnehmungen aus, sprechen in der Tat über Gott und die Welt. Dabei fühle ich mich meinen Gesprächspartnern geistig so verbunden, dass ich tatsächlich das Gefühl bekomme, mich mit Geschwistern zu unterhalten. So könnte der Abend endlos weitergehen und wir bedauern es alle, dass wir gegen 22:30 Uhr doch die Nachtruhe einläuten müssen. Was für eine wunderschöne Herberge – wahrlich ein Stück Himmel auf Erden und ein schönes Beispiel dafür, wie sich der eigentliche Sinn eines Pilgerweges mit Gott in Herberge und in der Begegnung mit Menschen realisieren kann. Es tut mir aufrichtig leid, morgen wieder weiterziehen zu müssen.