Donnerstag, 18. Oktober 2007

Etappe 5: Von Obanos nach Puente la Reina

Es ist Samstag, der 28. Juli 2007.

Am Morgen breche ich nicht ganz so früh auf, da ich weiß, dass meine heutige Etappe nur kurz sein wird. Mein Fuß schmerzt allerdings bei jedem Auftreten so sehr, dass ich befürchte, für die wenigen Kilometer bis nach Puente doch lange zu brauchen. Mit Mühe fahre ich in die Wanderschuhe und verlasse die Herberge.

Humpelnderweise wandere ich durch das verschlafene Obanos. Von der Generalprobe gestern Abend ist nichts mehr zu sehen und kurz denke ich, ich hätte das geträumt. Der Ort wirkt wieder sehr friedlich in der aufgehenden Sonne und auch wenn ich durch die Blasen an den Füßen stark eingeschränkt bin, merke ich, dass die Schmerzen nach einiger Zeit des Laufens erträglich werden. Also versuche ich so gut es geht, die Landschaft zu geniessen und langsam weiterzukommen.

Nach fast zwei Stunden erreiche ich Puente la Reina. Es ist gerade mal 9 Uhr und meine Füße schmerzen nun doch wieder sehr. Es scheint auch wieder ein sehr heißer Tag zu werden. Gleich am Ortseingang soll eine schöne Herberge sein, die Teil eines Hotels ist. Ich gehe hin und frage nach, ob ein Platz für mich frei ist, doch die Dame sagt, es wäre schon alles voll. Ich frage mich, wie das sein kann, morgens um 9 Uhr, diskutiere aber nicht mit ihr. Vielleicht hatten noch mehr das Problem mit den Füßen und waren einfach eher da?! Wahrscheinlicher ist, dass sie entweder schon für eine Pilgergruppe eine Reservierung vorliegen hat oder dass sie so früh grundsätzlich niemanden aufnimmt. Naja, ich bin nur leicht verzweifelt, als Mario, der Deutsche aus Obanos, auch auftaucht und ob der Nachricht über die bereits ausgebuchte Herberge auch etwas enttäuscht zu sein scheint. Also beschließen wir, erstmal einen Kaffee zu trinken und zu frühstücken. Das dauert dann schnell eine gute Stunde. Zwischendurch treffe ich an der Bar auch wieder auf Carla, die Südafrikanerin, die offensichtlich gestern Nacht einen Platz in dieser Herberge bekommen hat und nun weiterläuft. Ich verabschiede mich von ihr, nachdem uns beiden klar ist, dass wir uns wohl aufgrund meiner Pause hier, nicht wiedersehen werden.

Bald darauf brechen Mario und ich auch auf. Man hatte uns eine Etappe vorher einen Flyer in die Hand gedrückt, auf dem eine ganz neue Herberge am anderen Rand von Puente la Reina angepriesen wurde. Diese wollen wir nun suchen.

Wir kommen bei unserer Suche jetzt erst so richtig nach Puente, laufen an der Malteserkirche vorbei, auf deren Turm Störche ihre Herberge gefunden haben. Dann werden wir von ein paar sehr betrunkenen Jugendlichen auf Spanisch vollgelabert - nicht unfreundlich aber flüssig - und labern sie einfach auf Deutsch wieder an. Damit ist der Grundkonsens zwischen uns in der gegenseitigen Unverständlichkeit gefunden und wir ziehen weiter. Es fällt uns aber auf, dass es in Puente offenbar eine Fiesta gegeben hat. Später erfahren wir dann, dass diese Fiesta auch noch das ganze Wochenende andauert und dabei junge Stiere durch die Gassen getrieben werden, ähnlich wie das auch in Pamplona während der Sanfermines gemacht wird.

Wir durchstreifen die Altstadt von Puente la Reina und treffen am Ortsausgang auch auf die berühmte und wunderschöne mittelalterliche Brücke, nach welcher der Ort benannt ist. Puente la Reina heisst nämlich Brücke der Königin. Ich bin vom Anblick und Überqueren der Brücke so fasziniert, dass ich sogar meine Schmerzen für einen Moment vergesse. In herrlichen weiten Bögen überspannt sie den unter uns gemächlich dahinfliessenden Rio Arga. Gleich dahinter geht es einen kleinen Hügel hoch und dort ist die von uns gesuchte Herberge. Wir sind etwas in Sorge, ob man uns morgens um 11 Uhr schon einlässt, aber der einzige Hospitalero, der da ist, hat damit kein Problem. Geschafft! Jetzt kann ich die Füße hochlegen und mich für den Rest des Tages ausruhen. Die Herberge ist in der Tat ganz neu und lässt aufgrund des großen Gartens mit Swimming Pool, Liegewiese, Sonnenliegen und dem fantastischen Wetter Urlaubsgefühle aufkommen. Es wird wieder sehr heiß und so entschließe ich mich das Angebot unserer "Club Med"-Herberge auszuschöpfen. Am Nachmittag steige ich in den Pool und verlagere somit die körperliche Aktivität von den Füßen auf den Rest des Körpers. Auf einmal taucht ein mir bekannter Pilger ebenfalls in der Herberge auf und die Freude ist bei uns beiden groß: es ist Roy, der Ire, den ich auf dem Weg nach Roncesvalles zum ersten Mal getroffen habe. Wir setzen uns gemeinsam an ein schattiges Plätzchen und unterhalten uns mit einem Paar älterer Leute. Beide sind circa 80 Jahre alt; die Dame kommt aus den USA und der Mann kommt aus Neuseeland. Beide sind wohl nicht verheiratet, aber eng befreundet und wandern gemeinsam auf dem Jakobsweg. Unglaublich, in diesem Alter! Wir sprechen sehr lange miteinander und ich bin zutiefst von der Lebensgeschichte dieser beiden alten Leute beeindruckt.

Da meine Geldreserven aufgebraucht sind und ich gerade noch 60 Cent habe, mache ich mich am späten Nachmittag auf, um in der Stadt beim Geldautomaten Geld zu holen. Außerdem möchte ich ein paar Fotos machen und mir die Stadt noch einmal in Ruhe ansehen. Trotz noch immer schmerzender Füße, humpele ich also den Hügel wieder hinab und begebe mich in die Innenstadt. Die Sonne brennt auch jetzt noch sehr stark. Beim ersten Geldautomaten erhalte ich die Meldung, dass die von mir gewünschte Aktion (Geld abheben) nicht möglich sei und ich Kontakt mit meiner Bank aufnehmen soll. 'Wenigstens kommt die Karte wieder raus!' denke ich mir und gehe einfach weiter um einen anderen Automaten zu finden. Etwas komisch ist mir aber jetzt schon. Ich hatte immer gedacht, dass das Schlimmste, was auf dem Weg passieren könnte, der Verlust der Geldkarte sei, weil man dann nichts mehr machen könnte. Bei Krankheit kann man einen Arzt aufsuchen, bei Verlust des Ausweises könnte man Kontakt zur Botschaft aufnehmen aber bei Verlust der Geldkarte, was macht man dann?

Ich gehe also weiter und merke dabei, dass die Fiesta in Puente schon fast wieder beginnt. Zahlreiche Straßen und Gassen sind abgesperrt um den Stieren freien Raum zu lassen. Die Leute sind aufgekratzt und die Kinder rennen fröhlich und aufgeregt durch die Gassen. Ich kann diese freudige Situation nicht wirklich genießen, denn erstens tun mir meine Füße so furchtbar weh und zweitens habe ich kaum noch Geld. Ich treffe auf einen weiteren Geldautomaten und mir scheint, dies ist der letzte hier. Ich probiere es wieder und erhalte zu meinem Unglück die gleiche Antwort wie bei dem anderen Gerät. Jetzt bin ich durcheinander. Was soll ich jetzt machen?! Ich habe noch 60 Cent, wohl aber die Übernachtung und das Abendessen in der Herberge schon bezahlt. Das heisst, der heutige Tag und die Nacht sind gesichert. Aber was dann? Ziemlich niedergeschlagen und nervös mache ich mich auf den Rückweg zur Herberge. Die ollen Stiere sind mir plötzlich egal, aber doch nicht so egal, dass ich auf ihrer Piste laufe. Ich gehe also um die Altstadt herum zurück zur Herberge. Dann muss ich diese Sache irgendwie klären, also rufe ich zu Hause bei meinen Eltern an. Nun ja, es ist Samstag Nachmittag und weder in Spanien noch in Deutschland haben die Banken da geöffnet! Und morgen ist Sonntag, da ist auch nichts offen. Meine Eltern können mir auch nicht sehr helfen, obwohl es mir schon hilft, die Sache mit ihnen zu besprechen. Jetzt wird mir das ganze Ausmaß der Situation bewusst und ich fühle mich vollkommen verloren. Am liebsten möchte ich die Reise jetzt abbrechen, aber ich habe noch nicht mal genug Geld um nach Hause zu kommen. Ich spreche kurz mit Mario darüber, der zwar anbietet, mir Geld zu leihen, aber auch nicht sonderlich begeistert zu sein scheint. Es gibt also für mich nur eine einzige Möglichkeit: ich werde morgen einfach weiterlaufen müssen um nach Estella zu kommen und dort wieder einen Versuch am Geldautomaten starten. Aber Estella ist 23 km entfernt und meine Füße beschweren sich schon beim Gedanken an die Zahl. Es geht aber nicht anders. Das ist die einzige Option.

In meiner Verzweiflung nehme ich mein schon bezahltes Pilgermenü am Abend in der Herberge ein. Man bekommt eine ganz andere Perspektive zu einem Essen in solch einer Situation. Am besten lässt es sich wohl mit einer Henkersmahlzeit vergleichen. Am Tisch sitzen nur Deutsche. Ich lerne Berith und Konstanze, zwei befreundete Lehrerinnen aus Jena kennen und mir gegenüber sitzen Sabine und Julian aus Berchtesgaden, die als Mutter und Sohn unterwegs nach Santiago sind. Wir haben einen angenehmen Abend, obwohl er für mich nicht wirklich spaßig ist. Die beiden Niederbayern mir gegenüber finde ich lustig, auch wenn ich mich ihnen durch den bayerischen Dialekt nicht wirklich verbunden fühle. So geht der Abend dahin und sehr angespannt und verzweifelt gehe ich schließlich schlafen. Morgen steht mir eine Reise ins Ungewisse bevor.